Was braucht es, um den Schritt aus der gemütlichen „Komfortzone“ zu wagen? Kann ein anstrengender, sozialer Beruf in Nicaragua mehr Zufriedenheit schaffen als ein vermeintlich „sicheres“ Leben in Europa? Es kann, wie Verena Hackl (Mitte) und Nadine Gulyas (anz rechts) im Interview mit lebenskonzepte.org dokumentieren. Seit rund drei Jahren leben und arbeiten die beiden Österreicherinnen Verena, 25, und Nadine, 26, als Ergo- und Physiotherapeuten auf der Insel Ometepe in Nicaragua. Im Therapiezentrum „Proyecto Samaritano“, das sich Kindern mit Behinderung widmet, konnten die beiden nicht nur weitreichende therapeutische Hilfe geben, sondern auch im Bewusstsein der lokalen Gesellschaft viel zum Positiven verändern. Ein Gespräch über den Genuss des einfachen Lebens, warum Rückschläge einem wachsen lassen und wie erfüllend es ist, ohne Konsum glücklich zu sein. Liebe Nadine, liebe Verena, glaubt ihr, hat eure ursprüngliche Herkunft einen Einfluss auf eure Berufswahl im Sozialbereich gehabt? Nadine: Natürlich spielt die Herkunft irgendwie mit, dass ich Physiotherapeutin geworden bin. Wenn du wie ich aus einem kleinen Dorf in Oberösterreich kommst, wo jeder den anderen hilft und zusammenarbeitet, lernst du das Soziale, das Miteinander schon von klein auf. Vor allem aber die Arbeit mit Menschen und der medizinische Bereich haben mich schon immer besonders interessiert. Verena: Bei mir war das ähnlich, wiewohl ich aus der Stadt (Innsbruck) stamme. Auch bei uns gab es eine lebendige Nachbarschaftshilfe. Viel größer aber war mein Wunsch mehr von der Welt zu sehen. Ich habe die Berge in Tirol nie als Hindernis sondern eher als Sprungbrett gesehen. Die Mischung aus sozialen, entwicklungstechnischen und medizinischen Bereichen liegt mir persönlich sehr nahe. Zudem wollte ich nach meinem Ergotherapie-Studium nicht an einem Ort arbeiten, wo alle Rahmenbedingungen vorgegeben sind. Mir liegt die Herausforderung. Soziale Berufe sind in der Gesellschaft zwar hoch angesehen, jedoch in der Regel schlecht bezahlt… Nadine: Richtig. Dazu passt meine Erfahrung, die ich in Spanien gesammelt habe. Dort habe ich nach der Matura ein Jahr als Au Pair bei einer reichen Familie gearbeitet. Das war eine sehr wohlhabende Familie, aber extrem geizig. Ich habe dort einmal einen Apfel ohne Fragen gegessen, danach hat mich die Mutter aufgefordert diesen nachzukaufen. Trotz des materiellen Reichtums habe ich gesehen, wie viel Unzufriedenheit und Geiz in der Familie geherrscht hat. In diesem Jahr habe ich gelernt, was ich nicht mag. Heute habe ich trotz meines geringen Einkommens hier in Nicaragua ein zufriedenes, erfülltes Leben. Was ich hier auf der Insel Ometepe gelernt habe ist, dass man nicht viel Geld braucht, um glücklich zu sein. Eine gewisse finanzielle Sicherheit ist sicher wichtig, klar. Aber wenn du siehst mit wie wenig die Menschen hier leben können, ist das im Vergleich zu unseren Verhältnissen unglaublich. Verena: Du lernst hier mit sehr wenig Geld und materiellen Mitteln zufrieden zu sein. Du lernst das einfache Leben zu genießen. Die Erkenntnis, die wir hier in Nicaragua „gewonnen“ haben: du brauchst diesen gesamten Konsum gar nicht. Die vielen materiellen Dinge, mit der sich Menschen in den westlichen Ländern umgeben, machen einem nicht glücklicher… Im Gegenteil. Welche Perspektive habt ihr durch eure soziale Tätigkeit in Nicaragua auf das „sichere Leben“ in Europa bekommen? Nadine: Viele Menschen in Österreich leben in einer Art „Komfortzone“. Sie haben eine Arbeit, die ihnen nicht allzu viel Spaß macht. Sie besitzen ein Auto und wollen vielleicht schon wieder ein neues kaufen. Sie haben einen Hund und ein Haus auf Kredit. So verbringen sie ein Leben, das ihnen in Wirklichkeit nicht viel Spaß macht. Aber: verändern wollen sie es auch nicht. Selbst wenn der Chef jeden Tag schlechte Stimmung im Büro verbreitet… Den Schritt zu wagen aus dieser Komfortzone herauszugehen und etwas anderes zu machen, dieser Schritt mag zwar nicht einfach sein. Aber wenn du einmal aus dieser Komfortzone herausgetreten bist, dann merkst du erst wie aufregend und erfüllend diese Erfahrung ist. Du lernst und wächst daran – beruflich wie auch persönlich. Verena: die persönliche Entwicklung ist meiner Meinung das allerwichtigste bei diesem Lebenskonzept. An einem Ort, wo du die Sprache nicht sprichst, in einem Land in dem eine ganz andere Kultur vorherrscht, geht die Persönlichkeitsentwicklung noch einmal viel intensiver von Statten. Zudem sind wir hier noch auf einer Insel, du kommst also selbst wenn du möchtest nicht so schnell weg. Wir mussten hier alles aufbauen: unser Leben und auch das Vertrauen der lokalen Bevölkerung für die Therapien mit behinderten Kindern. Ständig sind wir mit Rückschlägen konfrontiert, und mussten oft von Null an beginnen. Aber trotzdem wachsen wir und entfalten uns. Es war ein langer Weg bis wie sagen konnten: jetzt füllen wir uns zuhause. Nadine: Herausforderungen ohne vermeintliche Sicherheit, das macht vielen Menschen heute Angst. Es sind aber im Grunde genau jene nicht so einfachen Aufgaben, die einem bestärken und erfüllen. Wenn du einmal Einsamkeit auf einer Insel gespürt hast, speziell in der Regenzeit, wo kein Mensch da ist, dann weißt du ganz genau, wie viel man in diesen Situationen über sich selbst lernen kann. Wenn ihr an die Zukunft denkt, an die Kinder, die erwachsen werden: was wünscht ihr Euch am dringlichsten? Verena: Mein größter Wunsch wäre es, dass Behinderung in der Gesellschaft akzeptiert wird. Dass die Kinder integriert werden. Jedes Kind, egal mit welchen Grad einer Behinderung, hat die Möglichkeit sich zu entwickeln. Jedes Kind kann lernen und etwas erreichen, wenn es die Hilfe des Umfelds hat. Nadine: Unser Traum ist es, dass Behinderung allgemein toleriert und akzeptiert wird. Anfangs mussten wir die behinderten Kinder auf der Insel noch suchen, weil sie die Mütter zuhause versteckt hatten. Heute kommen die Menschen gerne zu uns. Da haben wir schon sehr viel im Bewusstsein der Menschen verändert. Wir sind gerade dabei ein Therapiezentrum für Physio- und Ergotherapie aufzubauen und wünschen uns, dass dies der Grundstein für eine nachhaltige Zukunft ist. proyectosamaritano.wordpress.com Interview: Helmut Wolf
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