Buch statt Tablet? Schallplatte statt Spotify? „Echte“ Dinge zum Angreifen boomen. Das spürbare, analoge Erlebnis belebt und füllt unser „sinnliches Bedürfnis“ des Angreifens. Analyse! „Ich glaube, dass uns in der digitalen Welt etwas fehlt: etwas nicht Kontrollierbares, Zufälliges. Analoge Fotos sind körnig, manchmal verrutschen sie, es entsteht nicht die wiederholbare Gleichmäßigkeit des Digitalen. Das Chaotische empfinden wir als natürlich...“ Diese Aussage stammt nicht etwa von einem Modernitätsverweigerer, sondern von US-Kult-Regisseur Wes Anderson. Anderson gilt als innovativer Filmemacher und hat mit Filmen, wie „Grand Hotel Budapest“ oder „Moonrise Kingdom“ laut BBC „zwei der bedeutendsten Filme des 21. Jahrhunderts“ geschaffen. Stets und gerne schöpft Anderson aus dem bunten Spektrum analoger Stilelemente: von der alten Eisenbahn in Indien bis zum sagenumwobenen „Grand-Hotel“ und vielen alten Gegenständen. Alles Dinge, die in uns Bilder und Emotionen wecken... Schallplatten, Füllfedern, Malbücher vs. Whatsapp und Emojis? Es mag anachronistisch anmuten, dass in Zeiten von Whatsapp, Instagram und Emojis viele Menschen wieder auf reale Dinge zurück „greifen“. Verwunderlich ist es aber nicht. Denn: In Zeiten zunehmender Digitalisierung unseres Alltags, hat sich eine vermeintliche Lücke in der „sinnlichen Wahrnehmung“ aufgetan: der Mensch (be-)greift und spürt immer weniger. Täglich wischen und tippen wir zwar über Bildschirme und Tastaturen, chatten und kommunizieren über virtuelle Social Media-Kanäle, unsere Sehnsucht nach Erfahrungen mit „allen“ Sinnen erfüllt diese digitale Lebensweise jedoch nicht. Raus aus der Cyberwelt, rein ins wirkliche Leben. „Das Virtuelle macht uns alle gleich“, meint der Journalist Ulrich Stock in der „Zeit“. Und begründet es folgendermaßen: „Wenn Sie und ich den (Musikstreaming-Dienst) Spotify auf den Smartphon haben, gibt es zwischen allen anderen Benützern und mir keinen Unterschied mehr. Wir können für ein paar Euro im Monat unter Millionen Titeln wählen. Eine Schallplattensammlung hingegen hat nicht jeder: Sie kostet mehr Geld - und viel Platz. Jeder Kauf verlangt nach Abwägung. Das Individuum „kuratiert“ seinen Konsum. Und am Ende gibt es eine schöne Belohnung - Motto: Zeig mir deine Plattensammlung, und ich sage dir, wer du bist. Das Analoge gerät zum Teil der Persönlichkeit. „Wenn ich eine Füllfeder in die Hand nehme und einen Satz in mein Notizbuch schreibe, dann sieht man am Schriftbild, ob ich einen guten oder schlechten Tag habe", sagt Angela Zettner vom Retro-Kaufhaus Manufactum. „Das eigene Ich zeigt sich via Tinte am Papier viel nachhaltiger, als durch jedes Wischen auf einem Display“. Zettner spricht aus, was sich gerade am Erfolg von Institutionen wie Manufactum, deren Philosophie auf „echten“ Produkten aus Holz, Glas, Leder usw. basiert, zeigt: der Mensch möchte Waren und Dienstleistungen mit all seinen Sinnen erfahren – und „begreifen“. Und immer mehr Menschen sind dafür bereit für einen Artikel, auch wenn er sperriger und teurer ist als das digitale Pendant, mehr dafür zu bezahlen. Der anwachsende Trend zum Analogen, wirkt sich auch - ganz Analog - auf die Verkaufszahlen aus: so ist alleine in Deutschland der Absatz von Mal- und Zeichenbedarf im Jahr 2016 gegenüber dem Vorjahr um 80(!) Prozent auf 45 Millionen Euro gestiegen. Ebenso stieg der Vinyl-Absatz (Schallplatten) im Jahr 2016 gegenüber 2015 um 40 Prozent, auf 70 Millionen Euro - gebrauchte Platten nicht eingerechnet. Auch in Österreich wurden 2016 Mehr als 300.000 Stück Vinyl-Schallplatten gekauft. Soviel, wie zuletzt im Jahr 1993. Internationale Handelsketten wie „Urban Outfitters“ bieten Polaroid-Kameras und Plattenspieler an, und in vielen Szene-Lokalen findet man wieder klassische Brettspiele und Bücherwände. „Wir stehen nicht vor der Wahl: digital oder analog“, meint der kanadische Autor und Journalist David Sax. Diese vereinfachte Dualität, so Sax, wurde uns vielmehr von der digitalen Welt der Tweets und Postings aufgedrängt. Der Autor des interessanten Werkes „Die Rache des Analogen“ ist überzeugt davon, dass es hier nicht um Schwarz oder Weiß, oder um Samsung oder Apple geht, sondern vielmehr um eine Realität, die viele Farben, unendliche Strukturen und emotionale Schichten hat. „Die besten Ideen entspringen aus der (menschlichen) Komplexität. Diese kann die digitale Technologie nicht völlig erfassen", so Sax. Sein Schluß: „Die reale Welt ist wichtig, jetzt noch mehr als je zuvor“. „Wir können das Digitale gar nicht lieben, weil es irgendwie nicht menschlich ist“, drückt es Regisseur Wes Anderson etwas drastischer als David Sax aus. Und auch wenn man Andersons Aussage skeptisch gegenüberstehen mag, so lässt sich dennoch sagen: die ungeschliffene, kreative, oft irrationale menschliche Natur, kann von der digitalen Welt wahrscheinlich nie ganz abgebildet werden. Was sind 10.000 Facebook-Freunde gegen einen wirklich guten Freund, einer besten Freundin? Wie stark wirken Zufriedenheit und Glücksgefühl bei einem wunderschönen Sonnenuntergang am Meer oder in den Bergen, im Vergleich zu einem perfekt ausgefeilten 3D-Erlebnisspiel am Computer? Und: wie stark ist die emotionale Kraft eines handgeschriebenen Briefes, im Vergleich zu einer E-Mail oder Whatsapp-Nachricht? „Jeden Tag werden Dinge in unserem Leben durch digitale Technik verbessert oder verändert“, sagt David Sax. Autos, Häuser, ja sogar unser Sexleben. „Aber gerade weil die digitale Technologie so verdammt gut ist, zeigt sie uns gleichzeitig, wer wir sind und wie wir funktionieren“, so Sax. Und der Mensch funktioniert vor allem als haptisches, sinnliches Wesen. Analoge Erfahrungen bieten uns dabei nicht nur Freuden und Belohnungen der „wirklichen Welt“, sondern sie sind auch manchmal leistungsfähiger: beispielsweise, wenn man seinen Gedanken freien Lauf lassen möchte, ist der Stift immer noch mächtiger als Tastatur oder Touchscreen. Aber jetzt: genug Online gelesen. Wo ist das nächste Brettspiel... Buch-Tipp: Die Rache des Analogen - Warum wir uns nach realen Dingen sehnen Von: David Sax Umfang: 316 Seiten Erschienen bei: Residenz Verlag Fotos: Allie Adams (Titel), The Guardian, Instagram/dadsdiscdelight, thevinylfactory.com, wooino.de, Manufactum Quelle: Die Zeit Text: Helmut Wolf
1 Comment
Luana
1/10/2018 12:28:58
Wir kommen mit der äußeren Entwicklung seit dem Mittelalter nicht hinterher....
Reply
Your comment will be posted after it is approved.
Leave a Reply. |