Eine Welt ohne Schranken und Ausgrenzungen? Der französische Ethnologe Marc Augé umschreibt eine „illusorische Gemeinschaft“ in der Grenzen anerkannt und doch durchlässig sind. Müssen wir in Zeiten von Flüchtlingsströmen unsere Perspektiven auf die Gesellschaft ändern? Grenzen als Appell an Aufbruch und Neugier. Die menschliche Geschichte ist von Grenzüberschreitungen geprägt: Flüsse, Ozeane, Gebirge, Landstriche... Stets ging es darum „natürliche Grenzen“ zu überqueren. „Grenzen werden als Appell an die Neugier und den Aufbruch wahrgenommen“, schreibt der französische Sozialwissenschaftler und Anthropologe Marc Augé, 80, in seinem Essay „Die illusorische Gemeinschaft “. Epoche der Migration. Gerade heute erleben wir mit dem Zustrom von Millionen Flüchtlingen aus den nordafrikanischen Staaten wieder eine neue Dimension der Grenzüberschreitungen. „Die große menschliche Erfahrung unserer Epoche ist die der Migration und des Exils“, betont Ethnologe Marc Augé (Foto). Die Migration sei ein individuelles Abenteuer, das seine Entsprechung in dem mehr oder weniger beschleunigten Auseinanderbrechen der Gesellschaften hat. Die Flüchtlinge haben keine Wahl, unterstreicht Augé: sie haben alle Brücken hinter sich abgebrochen, die Grenze überquert, und ihr Leben wird nie mehr sein, wie es war. Der Sinn ihres Lebens existiert nur in der Zukunft. „Von daher haben sie die heutige Welt besser verstanden als jene, die sich über das plötzliche Auftauchen der Migranten beunruhigen und bemühen, die Flüchtlinge unter Berufung der eigenen Wurzeln, der eigenen Kultur und eigenen Traditionen ,auszugrenzen´“. Wie dehnbare unsere Grenzen sind, macht der Ethnologe an der Entwicklung unserer Demokratien fest: der Status der Frau, Scheidung, Homosexualität... was vor nicht einmal sechzig Jahren verboten oder undenkbar war, ist heute Realität und tragende Säule unserer Gesellschaft geworden. Grenzen faszinieren und beunruhigen uns gleichzeitig... Oft sind Grenzen von Eroberern überschritten worden, die andere Menschen attackierten und unter ihre Herrschaft zwangen. Respekt vor den Grenzen ist deshalb immer auch Beweis für den Frieden... Eine weltweite Bildungsrevolution. „Wir müssen den Sinn der Zeit und der Geschichte wiederfinden“, meint der französische Wissenschaftler Marc Augé, „um die neue Grenzen zu identifizieren, die sich an unserem Horizont abzeichnen“. Die Erkundung dieser neuen Grenzen sollte nicht nur von einer kleinen Wissens- und Machtelite alleine entdeckt werden, sondern allen Menschen zugänglich gemacht werden: dafür brauche es eine weltweite, friedliche Bildungsrevolution. Kann es gelingen, eine neue Gesellschaft zu entwickeln, die - angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme - die Überschreitung der Grenzen und Kulturen als Ziel hat? Nicht mehr nur in „einer“ Gemeinschaft und abgeschotteten Tradition leben, sondern in verschiedenen Kulturen und Welten? Marc Augé beantwortet es so: „Mit den Migranten wird man die Demokratie von morgen erbauen und das Gemeinwohl gegen die totalitären Derivate verteidigen müssen... Durch ihre bloße Existenz beweisen sie uns, dass es noch Grenzen zu überschreiten, Begegnungen zu machen und eine Zukunft für die Demokratie gibt...“ Buch-Tipp: „Die illusorische Gemeinschaft“ von Marc Augé 37 Seiten, Klappenbroschur Aus dem Französischen von Till Bardoux Erschienen im Verlag: Matthes & Seitz Berlin Text: Helmut Wolf
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