40 Jahre - 40 Stunden pro Woche arbeiten? Ist das noch zeitgemäß? Nein, meint Soziologin Karin Jurcyk. Sie plädiert für ein Umdenken. Ein Gespräch über „atmende Lebensläufe“ und „Care-Zeiten“... „Atmende Lebensläufe“ statt Ausbildung - Arbeit - Ruhestand. Karin Jurcyk, Soziologin und Abteilungsleiterin für Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Themen rund um Familie, Beruf sowie alltäglicher Lebensführung und Zeit. Im nachfolgenden Interview (Teil II), erläutert Jurcyk, warum das Dreiphasen-Schema „Ausbildung, Arbeit, Ruhestand“ nicht mehr zu unserem Sozialmodell passt und wie hilfreich „atmende Lebensläufe“ für die Menschen wären... Ausbildung – Berufstätigkeit – Pension. So lautet das bisherige Lebenskonzept. Wird sich diese Erwerbsbiografie der Menschen ändern (müssen)? Unsere Gesellschaft hält an einer strikten Normierung des Lebenslaufs nach dem alten Dreiphasen-Schema fest: Ausbildung, Arbeit, Ruhestand. Die veränderten Geschlechter-, Erwerbs- und Familienverhältnisse passen jedoch mit diesem Sozialmodell nicht mehr zusammen: veränderte Lebenslauftypiken, eine veränderte Arbeitswelt und ein institutionalisiertes Sozialmodell, machen ein Umdenken notwendig. Alle Beteiligten müssen die gleichen Verwirklichungs- und Teilhabechancen erlangen, um zum „richtigen Zeitpunkt“ im Lebensverlauf über „Zeit für Care“ (= Sorgearbeit für: Familie, Gesellschaft, Soziales..., Anm.) verfügen zu können. Diese „Care-Zeiten“ können dann in Anspruch genommen werden, wenn sie gebraucht werden. Dies bedarf allerdings der Entwicklung von Instrumenten zur Abstimmung mit dem Arbeitgeber. Die Alterung der Gesellschaft ist eine weltweite Entwicklung. Daran gekoppelt ist die längere Lebensarbeitszeit. Gleichzeitig haben Menschen über 50 keine Chance mehr am Arbeitsmarkt, weil die hohen Lohnnebenkosten ältere Arbeitnehmer teuer machen. Haben sie dazu Lösungsvorschläge? Nein, ich habe keine Lösungsvorschläge. Ich kann nur darauf bauen, dass immer mehr Arbeitgeber realisieren, welche besonderen Potenziale und Wissensvorsprünge ältere Beschäftigte haben. Zudem sind ältere Menschen heute in der Regel auch gesünder und fitter als noch vor einigen Jahrzehnten. Ich hoffe, dass der - gerade aufgrund der allgemeinen Alterung der Erwerbsbevölkerung - vorausgesagte Fachkräftemangel dazu beiträgt, diese Potenziale genauer in den Blick zu nehmen. Was halten sie von der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens? Ich bin da ehrlich gesagt nicht ganz entschieden. Prinzipiell halte ich es zunächst für sinnvoll, dass jeder Mensch in die Lage versetzte werden sollte, durch „gute Arbeit“ für seine Existenzsicherung selbst aufzukommen und diese Arbeit auch zu einem Teil der eigenen Identität werden zu lassen. Es gibt aber viele Situationen, in denen das nicht möglich ist. Und statt eine Vielzahl oft undurchschaubarer Sozialleistungen zu bieten, und deren Inanspruchnahme durch komplizierte bürokratische Antragsverfahren zu erschweren, könnte man solche Transferleistungen auch zu einem Grundeinkommen bündeln. Ich habe jedoch Probleme damit, dies unabhängig vom Einkommen allen bedingungslos zur Verfügung zu stellen und hierüber auch die Forderung nach gerechteren Löhnen zurückzustellen... Vielleicht könnte man ja in Richtung eines „situativen“ Grundeinkommens denken: abhängig also von der Bedarfssituation, aber dennoch pauschaliert und mit einfachem Antragsverfahren. Insgesamt sind hier die Erfahrungen mit dem Grundeinkommen als sozialem Experiment, wie es derzeit in Finnland läuft, erst abzuwarten. Sie haben den interessanten Begriff des „atmenden Lebenslaufs“ kreiert. Was bedeutet das? Wie die Metapher schon sagt: wir sollten in unserem Erwerbsverlauf immer wieder mal durchatmen können, anstatt 40 Jahre 40 Stunden in der Woche durchzuarbeiten. Das Konzept der atmenden Lebensläufe lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: - Erstens: Unsere klassischen Lebensarbeitszeiten ändern sich im demografischen Wandel. Wir leben immer länger und müssen nicht an linearen Erwerbsbiografien festhalten, die bislang mit altersnormiertem Renteneintritt enden. Gleichzeitig müssen unsere Berufsbiografien flexibler werden, damit wir die zunehmenden „Sorgetätigkeiten“ (Pflege etc.) in einer alternden Gesellschaft wahrnehmen können. - Zweitens: Das „Carezeit-Budget“ ist ein Sozial-modell, das das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit neu im Lebenslauf regulieren will – im Sinne eines rechtlichen Anspruchs auf Sorgezeiten. - Drittens: Über die Erwerbsbiografie hinweg soll jede - und jeder - per „Ziehungsrechten“ über ein bestimmtes Zeitkontingent verfügen. Ziel ist es also: zu ermöglichen, dass Erwerbs- und Lebensverläufe flexibel, sozial abgesichert und selbstbestimmt gestaltet werden können. Abgelöst von den bisherigen Leitbildern von Normal-biografien, soll mit diesem Ansatz eine „neue Normalität“ entstehen können, in der beide Geschlechter ihren Erwerbsverlauf gemäß den individuellen Care-Bedarfen (und den Zeitbedarfen für andere gesellschaftlich relevante Aktivitäten) unterbrechen können. Oder aber ihre Arbeitszeit für einen bestimmten Zeitraum reduzieren können. Wenn sie drei zentrale Punkte für die Zukunft der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik definieren würden, welche wären das? Geschlechtergerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. Danke für das Gespräch! Interview Teil I Web-Tipp: www.dji.de Fotos: David Ausserhofer (Titelfoto), Generation Grundeinkommen, kandismarino-photography.com Text: Helmut Wolf
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