Niederlagen, die dich „wachsen“ lassen? Den Sinn für Schönheit und einfache Dinge bewahren. Extrembergsteigerin Tamara Lunger über die Natur als beste Lebensschule und warum wir wieder mehr „raus gehen“ sollten... Liebe Tamara, worin besteht für dich die Faszination hohe Berge zu besteigen? Es müssen nicht immer hohe Berge sein. Es geht einfach darum viel draußen, viel in der Natur zu sein. Die Menschen spüren sich nicht mehr, wenn sie nur mehr „drinnen“ sind. Wenn ich in der Natur bin, dann spüre ich den Wind, rieche den Wald, fühle die Sonne auf der Haut... Da fühle ich mich geborgen und lebendig. Wenn ich Momente habe, wo ich mich nach Ruhe und Zeit für mich sehne, dann gehe ich raus... Dann spreche ich mit den Bäumen und Pflanzen... Die verstehen mich viel besser. Die Natur nimmt mich so, wie ich bin. Dort fühle ich mich angenommen - und angekommen... Instagram und Netflix-Serien nehmen viel Lebenszeit in Anspruch: Viele (junge) Menschen verbringen deshalb immer weniger Zeit „draußen“. Wie könnte man die Leute wieder mehr „raus führen“? Ich kann nur sagen: Damit es uns als Gesellschaft wieder gut geht, sollten wir mehr draußen sein. Dort müssen wir wieder hin, um glücklich zu sein! Ja klar, die Technik ist verlockend, mit all den Angeboten und Versprechen. Aber: man wird dabei bequem - und verletzlich. Umso weniger wir Kontakt zur Natur haben, umso mehr geht unser Gefühl für die Umwelt und unseren Hausverstand verloren... Ich liebe alte Menschen, die mir so bildhaft von ihren Leben erzählen können. Diese alten Geschichten und Erlebnisse aus vergangenen Zeiten faszinieren mich. Damals passierte viel mehr „echtes Leben“, als in unserer heutigen, digitalisierten Welt... Was lernt man bei der Besteigung von Bergen? Welche Perspektiven gewinnt man? Mit jeder Expedition öffnest du dich mehr der Natur und Umwelt. Du spürst dich immer mehr als Teil des Ganzen. Deine Sinne werden geschärft und dein Bauchgefühl sagt dir genau, was richtig und falsch ist. Und wenn etwas gefährlich wird, dann spürst du das und reagierst entsprechend. Du fühlst, dass du dort bist, wo du hingehörst... Und jedes Mal lernst du etwas Neues. Trotz Anstrengung verleihen mir die Touren mehr Energie und lassen mich zufrieden sein. Du hast einmal gesagt: „Niederlagen sind Möglichkeiten zur besseren Selbsterkenntnis“. Wie meinst du das? Niederlagen sind viel cooler (lacht). Weil du daraus vielmehr lernen kannst. Wenn du auf deinem Weg an deine Grenzen stößt, und du stetig daran arbeitest, es vielleicht doch zu schaffen, dann ist dieser Prozess viel wertvoller für dein persönliches Weiterkommen. Schwierige Situationen und Herausforderungen formen deine Persönlichkeit, lassen dich wachsen. Nelson Mandela hat einmal gesagt: „Ich verliere nie. Entweder ich gewinne oder lerne etwas dazu“. Schwäche zu zeigen, ist eine Form der Ehrlichkeit. Das lernst du auch aus der Natur. In unserer Leistungsgesellschaft musst du heute „funktionieren“: Du darfst nicht traurig sein, keine Schwäche zeigen usw. Aber das ist nicht „natürlich“ - und ungesund. Auch die Natur ist manchmal schwach: Tiere halten Winterschlaf, Pflanzen und Bäume fahre ihre Energie zurück... Der Mensch hat eine ähnliche, innere Uhr. Oft gönnen wir uns viel zu wenig dieser Ruhephasen, obwohl wir beispielsweise im Winter mehr zur Ruhe kommen sollten... In Bhutan denken die Menschen durchschnittlich fünf mal am Tag an den Tod. Das lässt sie glücklicher, bewusster Leben. Wie ist deine Meinung dazu? Wenn ich von meinen Erlebnissen bei den Expeditionen und vom Tod spreche, sind die Leute oft erschrocken. Der Tod gehört zum Leben - und das Datum dafür wurde sicher schon geschrieben. In unserem Kulturkreis ist das Thema keines, über das gerne gesprochen wird. In Pakistan dagegen, da tragen die Menschen beispielsweise die Toten durch das Dorf und beerdigen sie am Fluss. Den Tod sehen diese Menschen als selbstverständlichen Teil des Lebens an. Ich sehe das auch so - und für mich heißt das: Bewusst jeden Tag zu genießen… Was ist dein Lebenskonzept? In meiner Wohnung steht der Spruch: „Ein großer und freier Mensch ist der, der sein Kinderherz nie verliert“. Das ist mein Lebenskonzept: Ein pures und reines Leben zu führen, ohne Vorurteile. Wie ein Kind, dass das Staunen für das Leben nicht verliert und in den kleinen Dingen die wahre Schönheit erkennt: Der Geruch von Heu, das Rauschen der Nadelbäume, das sind für mich die schönsten Momente... Vielen Dank für das interessante Gespräch! Web-Tipp: www.tamaralunger.com www.thenorthface.de Fotos: The North Face Interview: Helmut Wolf
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