Wohin entwickelt sich unsere Arbeitswelt? Was bedeutet Work-Life-Balance? Und wie sieht die ideale Arbeitsform der Zukunft aus? Trendforscher Harry Gatterer skizziert im nachfolgenden Interview warum Arbeit zu einer Kulturfrage geworden ist und sich zu einem großen Feld der Verhandlungen und Möglichkeiten entwickeln wird. Mobiles Arbeiten, Home Office, Desksharing: Die neuen Arbeitswelten ermöglichen immer mehr Flexibilität. Die Kehrseite: zunehmender Stress und eine ansteigende Burn Out-Rate. Wo liegt das „gesunde Maß“ der flexiblen Arbeit? Harry Gatterer: Es ist nicht einfach, sich in einer so komplexen Welt zu recht zu finden. Das gilt insbesondere wenn wir über Arbeit sprechen. Wenn sich die Bedingungen aufweichen, vorgegebene Muster nicht mehr so greifen, dann erzeugt dies beim Einzelnen Stress. Es geht im Grunde darum zu lernen, dass wir im 21. Jahrhundert den Menschen eine andere Form von Sicherheit bieten müssen. Eine Sicherheit, die auf einer Selbstsicherheit – einer Selbstwahrnehmung – basiert. Man könnte hier zum Beispiel vom „Sinn der Arbeit“ sprechen. Wenn die innere Sicherheit vorhanden ist, dann kann man zukünftig freier und selbstbestimmter und interessanter arbeiten, als je zuvor. Das ist wirklich großartig. Arbeit ist eben keine Ressourcen-Frage mehr, es ist eine Kulturfrage geworden. Und eine Frage von Bindung, Vertrauen und Kommunikation auf einer ganz neuen Ebene. Die viel beschworene „Work-Life-Balance“ wird in vielen Unternehmen zwar gerne verkündet, aber im Alltag dann doch nicht umgesetzt wird. Wie ist ihre Meinung dazu? Harry Gatterer: Wir agieren heute ganz oft mit Begriffen, als seien sie Konservendosen. Wir öffnen diese Dosen auch nicht mehr, weil wir davon ausgehen zu wissen, was drin ist. Wir wissen es aber meistens nicht. In Balance kann ich nur sein, wenn ich Sinnzusammenhänge verstehe. Balance hat etwas mit Eigenverantwortung und Selbstkompetenz zu tun. Oder Selbstschutz. Das kann zum Beispiel bedeuten, zu kündigen, wenn einem die Arbeitsbedingungen nicht gefallen. Oder sich selbstständig zu machen, wenn sich kein Unternehmen findet, dass das eigene Talent vollumfänglich unterstützen kann. Ich spreche hier nicht von einer „schönen Traumwelt“: alleine 250.000 Menschen in Österreich sind als EPU – als Ein Personen Unternehmen – tätig. Und der absolute Großteil dieser Menschen aus eigenen Stücken motiviert. Das ist gigantisch, eine wahre Bewegung. Wir sollten aufhören zu denken, dass es immer jemanden geben kann, der die Bedingungen für viele andere erzeugt. Die Zukunft der Arbeit ist ein stärkeres Feld von Verhandlung (des eigenen Arbeitsplatzes), Möglichkeiten (sich selbst zu entwickeln) und Resilienz: also der Fähigkeit einer Organisation und eines Menschen, mit ungeahnten Ereignissen gut umgehen zu können. In Skandinavien hat man den Begriff der „Flexicurity“ erfunden, und damit eine Balance zwischen Sicherheit und Flexibilität erzeugt. Das gesamte System „Arbeit“ – in dem ja nicht nur Unternehmern, sondern auch Gewerkschaften, Kammern usw. – , eine Rolle spielen, hat sich auf diese Flexicurity eingestellt. Mit großem Erfolg: wenn Sie in Schweden als Familienvater um 18:00 Uhr noch im Büro sitzen, werden sie von den Kollegen massiv ermahnt, doch endlich heim zu gehen. Da hat offensichtlich das System gelernt, und bietet eine neue Art von echt gelebter Balance, jenseits von ungeöffneten Begriffs-Konserven. Über zwei Millionen Menschen in Österreich arbeiten außerhalb ihres Wohnortes. In Deutschland pendeln täglich fast 9 Millionen Menschen mehr als eine Stunde zum Arbeitsplatz. Was können Unternehmen tun, um diese Situation zu verbessern? Harry Gatterer: Was will oder soll man daran verbessern? Der Ort an dem man arbeitet spielt auch in Zukunft eine große Rolle: Dort treffen wir Kollegen, haben ein professionelles Umfeld, können auch eine Identifikation zum Unternehmen aufbauen, für das wir arbeiten. Pendeln ist nicht per se schlecht. Stellen Sie sich vor, wir würden in einer Welt leben, in der alle von zu Hause aus arbeiten würden: Wer würde das wollen? Es ist eben der gekonnte Mix aus den oben beschriebenen Arbeits-Varianten, die immer mehr Menschen zur Verfügung stehen. Damit ist zu Hause arbeiten eine Option. Aber in vielen Berufen undenkbar. Schon gar als alleinige Variante. Tatsächlich werden wir eher die systemischen Bedingungen in Zukunft wandeln: Muss man beispielsweise tatsächlich mit dem eigenen Auto pendeln? Oder gibt es smarte Mobilitätslösungen – von „Öffis“ bis zu Sharing-Konzepten? Auch die Stadtentwicklung reagiert. Wir werden immer häufiger Stadtquartiere erleben, in denen die Menschen Leben und Arbeiten gut verbinden können, um das Pendeln zu vermeiden. Und gleich jede Menge anderer Life-Balance-Themen damit verbinden. Wer in einem Stadtquartier wohnt und vielleicht sogar dort arbeitet, hat auch seinen Kindergarten für die Kleinen und jede Menge anderer Orte des täglichen Bedarfs. Damit spart man Zeit und Weg. Es ist also nicht kurzfristig, dass man hier „Lösungen“ hat. Sondern es ist eine kontinuierliche Weiterentwicklung unseres gesellschaftlichen Systems, welche die Bedingungen verbessern können. Wie sieht für Sie die ideale Arbeitsform der Zukunft aus? Harry Gatterer: Die ideale Form der Arbeit ist es dann, wenn der Einzelne verstanden hat: Was ist mein Talent? Was sind meine Fähigkeiten und wie kann ich diese am besten entfalten? Und welche Umgebung brauche ich dazu? Dies soll nicht die ganze Verantwortung auf das Individuum abwälzen. Aber es soll uns zeigen, dass die Arbeitswelt sich an diesen Fragen orientieren muss. Unternehmen können nur von dort aus ein Umfeld formen, dass einerseits deutlich macht, wer das Unternehmen ist und was es will. Und in dem andererseits Menschen sich auch voll einbringen wollen und können. Die Zukunft der Arbeit ist jedenfalls bunter, komplexer und anspruchsvoll. Meine Beobachtung ist, dass wir langsam aber sicher aufhören, mit den Argumenten und Gedanken des 20. Jahrhunderts an die Fragen der Arbeit heranzugehen. Unsere Umwelt hat sich längst weiterentwickelt, nur unsere geistigen Bilder sind oft alt. Menschen brauchen eine Umgebung, die menschlich ist. Und menschlich bedeutet, sich weiterentwickeln zu können, Bindung und Vertrauen aufzubauen und den Sinn in der eigenen Tätigkeit zu erkennen. www.zukunftsinstitut.de Harry Gatterer ist Trendforscher, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts und Experte für „New Living“. Seine Schwerpunktgebiete sind: Die Zukunft von Leben und Arbeit, neue Lebensstile und ihre Wirkung auf Gesellschaft, Unternehmen, Konsum und Freizeit. Das Interview mit Trendforscher Harry Gatterer ist auch in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift flow 10/14 erschienen www.verbund.com/flow Interview: Helmut Wolf
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