Offene Kühlschränke. An verschiedensten Standorten - zu denen alle Zugang haben! Interview mit Dagmar Haier von der Plattform „Foodsharing“, über das Wegwerfen, Retten und Teilen von Lebensmitteln... Liebe Dagmar Haier, was genau ist damit gemeint, wenn ihr als „Foodsaver“ Lebensmittel „rettet"? Ganz einfach: wir retten Lebensmittel vor dem Müll! Das eigentliche Ziel wäre, dass es gar nicht soweit kommt, dass genießbare Lebensmittel im Müll landen. Wichtig ist dafür, dass man sich mit Lebensmitteln beschäftigt und sich auskennt. Vor allem was Haltbarkeit und Lagerung betrifft. Die Einstellung zu Nahrungsmitteln generell ist ausschlaggebend: Wenn sich jemand schon vor einem kleinen, braunen Punkt am Apfel graust, ist das eine schlechte Voraussetzung zum Lebensmittelretten. Wir holen also Nahrungsmittel ab, die noch genießbar sind, bevor sie weggeworfen werden. Ihr habt im deutschsprachigen Raum inzwischen über 200.000 Nutzer. Wie ist das Projekt ursprünglich entstanden? Ursprünglich kommt die Bewegung zum Teil aus der „Dumpster-Szene“: die Nahrungsmittel aus der Mülltonne rettet. Da wurde aber dann schnell erkannt, dass es doch viel einfacher wäre, direkt beim Betrieb anzufragen, bevor es soweit kommt. Raphael Fellmer aus Berlin hatte damals die Idee, eine Plattform zu programmieren, auf der sich Leute und Betriebe vernetzen können, die Interesse am Abholen und „Fairteilen" von übriggebliebenen Lebensmitteln haben - so wurde„Foodsharing“ geboren. In Amerika hat es so etwas schon früher gegeben, von dort ist der Begriff auch geprägt. Parallel hat Valentin Thurn in Köln den Verein „Lebensmittelretter“gegründet und den Film „Tastethe Waste“gedreht, der dieses Thema gut aufarbeitet. Aus dieser Kooperation ist dann eine große Bewegung entstanden, die heute foodsharing ausmacht. Woher „rettet" ihr all die Lebensmittel? Das ist ganz unterschiedlich. Anfangs waren es eher Bioläden und kleine Betriebe. Schnell kam dann der Bio-Supermarkt „denns“ dazu. Supermärkte sind natürlich eine andere Dimension, da muss die Zusammenarbeit über die Chefetage laufen und nicht über Filialmitarbeiter, das ist also etwas komplizierter. Österreichweit funktioniert das mit dennsaber sehr gut. Ansonsten sind es direkt Produktionsbetriebe aus der Landwirtschaft, Bäckereien, Restaurants etc. Die großen Super-marktketten kooperieren leider nicht mit uns, die haben ihre eigenen „Nachhaltigkeitskonzepte". Für den Betrieb selbst hat das ja auch Vorteile, es fallen weniger Müllabfuhrgebühren an, abgesehen vom ethischen Aspekt. Viele Betriebe haben da auch bereits eigene Strategien und verteilen ihren Überschuss sowieso an verschiedene Stellen. Das ist uns natürlich das Liebste. Einige spenden auch an karitative Organisationen, da mischen wir uns dann auch nicht ein. Es gibt euch erst seit ein paar Jahren - wieso stößt eure Plattform auf so großes Interesse? Einerseits steht der ethische Grundsatz im Vordergrund: Wieso müssen Nahrungsmittel verschwendet und weggeworfen werden? Andererseits gibt es natürlich viele, vor allem junge Leute, die sich den Supermarkt nicht leisten können - oder wollen. Inzwischen ist foodsharing eine Plattform für alle. Egal, aus welcher Intention heraus. Die Stadt Wien zum Beispiel duldet das Projekt nicht nur, sondern macht auf ihrer Homepage auf uns aufmerksam. Ein Betrieb hat nun zu viele Lebensmittel übrig - wie läuft die Verteilung dann ab? Foodsaver sind von uns ausgebildete Mitglieder, die einen Ausweis haben und zum Abholen bei Betrieben autorisiert sind. Offiziell haben wir momentan in Österreich über 1.600 schätze ich. Davon sind aber nicht mehr alle aktiv. Die abgeholten Lebensmittel werden dann direkt verteilt, prinzipiell von Privat zu Privat. Also an: Freunde, Familie, Nachbarn - und natürlich für den Eigenverbrauch! Was man nicht unterbringt, kann in einen „Fair-Teiler“ gebracht oder über die Website an andere Mitglieder verteilt werden. Daneben gibt es unzählige Foodsharer, die registriert sind und über die Website Einsicht in die Fair-Teiler und über die Plattform verteilte Lebensmittel haben. Foodsharing ist also in erster Linie ein Nachbarschaftshilfeprojekt und soll im „Grätzel“ funktionieren. So lernen sich auch verschiedene Leute kennen, die die selben Interessen haben. Das ist ein netter Nebeneffekt, da sind auch schon ein paar schöne Projekte daraus entstanden. Wo stehen diese offenen Kühlschränke - die „Fair-Teiler“? Die Fair-Teiler stehen an verschiedensten Standorten: Von Cafés über Vereine bis hin zu Magistraten. Diese unterliegen dann auch den jeweiligen Öffnungszeiten. Alle Standorte können auf unserer Homepage eingesehen werden. Prinzipiell darf jeder Lebensmittel aus den Fair-Teilernnehmen. Es gibt natürlich keine Garantie auf einen vollen Kühlschrank! Jeder darf auch Lebensmittel hineinlegen. Ausnahmen sind hier nur Lebensmittel mit strengem Verbrauchsdatum, wie Fisch, Fleisch, rohe Eier und - aus Jugendschutzgründen - Alkohol. Das Abholen und Organisieren stelle ich mir aufwendig vor. Wie macht ihr das? Einer der Grundsätze ist: Wir wollen keine extra Autos für das Abholen einsetzen. Hauptsächlich wird in den Ballungsräumen mit öffentlichen Verkehrsmitteln transportiert. Viel wird auch mit Fahrrädern abgeholt. Wir kooperieren hier auch mit Lastenradbesitzer oder -vermieter, wo sinnvollerweise dann teilweise auch Fair-Teiler stehen. Diese Community ist stark vertreten und wirklich sehr hilfreich. Darüber hinaus wachsen natürlich auch die Mengen an Lebensmitteln - und der logistische Aufwand. Neue Betriebe müssen vorsichtig angefragt werden. Es ist immer ein bisschen ein Drahtseilakt. Wenn sich ein Abholer blöd verhält, riskiert er die ganze Kooperation. Deswegen sind wir anfangs immer ein bisschen vorsichtig. Wir versuchen also, möglichst viel zu retten, sofern das logistisch möglich ist, aber auch auf Qualität zu achten. Wenn die Standorte weit weg sind oder große Mengen abzuholen sind, wird die Organisation natürlich schwierig. Wir schreiben das dann im Forum aus und sind in Folge sehr auf die Eigeninitiative der Foodsaver angewiesen, die dann selbst die Abholung organisieren. Wo stoßt ihr an eure Grenzen?
Schwierig sind zum Beispiel fertig zubereitete Speisen. Da kommt dann der Hygieneaspekt noch stärker zum Tragen: Wie wurden die gelagert? Waren sie immer gekühlt oder schon aufgewärmt? Wir versuchen deswegen auch möglichst gut aufzuklären über Haltbarkeit und Lagerung, damit auch im Haushalt nicht so viel entsorgt werden muss. Das ist ein Teil der Einführung, wenn jemand als Foodsaver ausgebildet wird. Wir informieren darüber aber auch auf unserer Homepage. Das Mindesthaltbarkeitsdatum beispielsweise bedeutet, dass ein Lebensmittel mindestens bis zum angegebenen Datum all seine Eigenschaften behalten muss. Das heißt aber noch lange nicht, dass es danach ungenießbar ist! Auf unsere Sinne zu vertrauen ist da meistens der beste Indikator. Im Unterschied dazu gibt es das Datum "zu verbrauchen bis...". Das ist das etwas vorsichtiger zu sehen. Eine andere Begrenzung ist natürlich auch die Umgebung - so ein Projekt kann nur in Ballungsräumen funktionieren, in denen sich genügend Leute dafür engagieren. Wie finanziert sich das Projekt? Das gesamte Projekt ist ehrenamtlich. Geld gibt es nur in Form von Spenden, die dann zum Beispiel für das Drucken neuer Ausweise oder für das Reparieren eines Lastenfahrrads ausgegeben werden. Bezahlte Jobs gibt es bei uns keine. Transparenz ist uns jedenfalls in dieser Hinsicht enorm wichtig. Gibt es ein langfristiges Ziel des Projekts? Ziel wäre, dass es gar nicht mehr dazu kommt, dass Lebensmittel in dem Ausmaß weggeworfen werden - einerseits auf privater Ebene durch Aufklärung und Bildung, andererseits auf geschäftlicher Ebene: Richtig kalkulieren, eine nachhaltige Geschäftspolitik in Handel und Industrie - und auch auf politischer Ebene! In Belgien oder Frankreich gibt es beispielsweise strengere Gesetze, da müssen übriggebliebene Lebensmittel verwertet werden. In Österreich ist der Wille dazu nur schwach vorhanden, aber die Initiative so vieler Menschen bewirkt schon einiges. Außerdem werden immer mehr Organisationen und Betriebe auf uns aufmerksam und versuchen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Nachhaltigkeit liegt immer mehr im Trend - und wir hoffen, dass sich das fortsetzt! Web-Tipp: www.foodsharing.at Fotos: Foodsharing Interview: Sarah Langoth
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