Migranten, Ausländer, Flüchtlinge, Menschen? Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Autor und Psychotherapeut Franco Biondi, 69, mit dem Thema der „Bikulturalität“. Ein Gespräch über Integration, Zugehörigkeit und das Interesse an Begegnungen. Franco Biondi weiß, was es bedeutet ohne Heimat zu sein. Schon früh sammelte er als Kind einer italienischen Schaustellerfamilie Erfahrungen mit dem heute so aktuellen Thema „Heimatlosigkeit“. Nach einer Ausbildung zum Schlosser und Elektroschweißer emigrierte er 1965 nach Deutschland. Dort war er rund zehn Jahre als „Gastarbeiter“ in verschiedenen Berufen tätig. Nachdem er Mittlere Reife und Abitur in Abendkursen nachgeholt hatte, studierte Franco Biondi Psychologie. Seine ersten Gedichte erschienen 1973 auf Italienisch. In seinen Essays setzt sich Biondi bis heute intensiv über seinen Standort in der deutschen Sprache und Kultur auseinander. Heute ist Franco Biondi als Psycho- und Traumatherapeut in Hanau tätig und weiterhin als Schriftsteller aktiv. Im nachfolgenden Interview erzählt Schriftsteller und Psychotherapeut Franco Biondi, 69, warum sozialer Aufstieg heute möglicherweise einfacher geworden ist und es für ein friedliches Zusammenführen westlicher und arabischer Lebensweisen in Europa individuelle Begegnungen braucht. Herr Biondi, sie sind in den 60er Jahren von Italien nach Deutschland emigriert, haben rund 10 Jahre als „Gastarbeiter“ gearbeitet. Wie schwer – oder leicht – war es für Sie wirklich „anzukommen“ und Fuß zu fassen? Es war überhaupt nicht leicht anzukommen. Und es hat lange gedauert. Es war etwas einfacher in der deutschen Sprache zu landen als in der nordeuropäischen Kultur, wie die deutsche. Es waren nicht nur die Vorbehalte gegenüber Gastarbeitern und Italienern insbesondere, sondern auch die Rigidität der damaligen deutschen Kultur, Normen, Sitten und Gewohnheiten. Erschwerend war auch, dass das Land stark mit sich beschäftigt war: einerseits waren die meisten Deutschen im Rahmen der Traumafolge-Störungen damit beschäftigt, das Erlebte zu verdrängen und Dritte-Reich- und Kriegstrigger zu vermeiden, andererseits Wachstum- und Konsumideologien zu entsprechen. In diesem Selbstrettungsversuchsszenario waren für weite Teile der deutschen Bevölkerung die Ankömmlinge, wie ich, auf der einen Seite erwünschte „Muli“: auf der anderen Seite lästige Störenfriede, die dann als Projektionsfläche gut nutzbar wurden. Mir persönlich hat die Freude am Erlernen der deutschen Sprache geholfen, damit zurecht zu kommen. Ich vermute, dass diese Freude an der deutschen Sprache und meine Neugier für die deutsche Wesenheit, sowie mein Interesse an Begegnungen, mir den Weg geebnet haben. Nach ihrer Ausbildung zum Schlosser und Elektroschweißer haben sie die mittlere Reife nachgeholt und Psychologie studiert. Sie sind heute Schriftsteller und Psychotherapeut. Ist der soziale Aufstieg generell schwieriger geworden? Rückblickend betrachtet: Es war für mich schwer und leicht zugleich. Schwer, weil ich mir den Weg zum Akademiker erkämpfen musste - in Italien hatte ich nur die Grundschule – fünf Jahre –besuchen dürfen. Und für Gastarbeiter waren nur die Randplätze der Gesellschaft vorgesehen. Nicht nur die Bürokratie legte mir Steine auf den Weg, auch die Erwartungen einer Gesellschaft an mich. Ein Beispiel: Auch als tätiger Psychologe wurde ich permanent damit konfrontiert, dass ich meine Dienste den in Deutschland lebenden Italienern zur Verfügung hätte stellen sollen. Meine Reaktion darauf war immer: Ich bin Diplom-Psychologe und nicht Diplom-Gastarbeiter oder Diplom-Italiener. Ich denke, heute ist der Aufstieg etwas einfacher geworden, auch wenn sich nicht wenige Einheimischen immer noch schwer tun, sich an einen diplomierten Vermögensberater oder Rechtsanwalt mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ zu wenden. Leicht war der Aufstieg, weil meine Auffassungsgabe und meine Verzweiflung ein gutes Team waren – die Verzweiflung gab mir den Antrieb, von der Welt der Fabriken wegzukommen, die Auffassungsgabe rein in die akademische Welt einzutreten. Sie haben Flüchtlinge auf der Suche nach Zugehörigkeit mit dem „Drama des ungewollten Kindes“ verglichen. Wie meinen sie das? In bestimmten Zusammenhängen ist das Zugehörigkeitsgefühl existenziell. In der psychotherapeutischen Arbeit ist das Phänomen der „nichtgewollten Kinder“ bekannt und auch gut erforscht. Die Wahrnehmung, von direkten Bezugspersonen unerwünscht, ungewollt zu sein und demnach sich dem Familienverband nicht oder nicht ganz zugehörig zu fühlen, stürzt sie existenzielle Nöte. Häufig führt das in einen lebenslangen Kampf mit etlichen Übertragungen auf spätere Beziehungen im Erwachsenenalter. Einwanderer machen häufig ähnliche Erfahrungen im Aufnahmeland. Gastarbeiter waren einerseits gewollt und andererseits ungewollt – gewollt als billige Arbeitskraft, ungewollt in ihrer ganzheitlichen Anwesenheit (das ist in mancherlei Hinsicht eine „Double-Bind-Klemme“). Und dies umso mehr, je mehr ihre kulturelle und ethnische Andersartigkeit potentielle oder reelle Konflikte mit sich bringt. Warum glauben Sie tun sich gerade gebürtige türkische oder arabische Gruppen, oftmals bereits in dritter Generation, so schwer bei der Integration in Deutschland oder Österreich? Die Migrationsforschung über die Einwanderung in USA, Kanada und Australien hat mit etlichen Befunden gezeigt: die sogenannte Erste Generation nimmt Diskriminierung und Ausgrenzung in Kauf und erträgt sie, um überhaupt eine Basis für sich und ihre Familie im Ankunftsland zu schaffen. Die sogenannte Zweite Generation empfindet sich im Vergleich zu den Eltern eher angekommen, aber oft eher auf der verwischten Ebene zwischen Wunsch und Realität, während die sogenannte Dritte Generation dann die weiterbestehenden subkutanen ethnischen Unterschiede erkennt und ernüchtert darauf reagiert. Ähnliche Entwicklungen sind für die Einwanderungsbewegungen in Europa zu erwarten. Dies umso stärker, je deutlicher sich die kulturellen und ethnischen Unterschiede erweisen. Was empfinden Sie heute beim Anblick der vielen Flüchtlinge? Gemische Gefühle. Trauer und Wut sind die Hauptgefühle. Von der geschichtlichen Entwicklung her denke ich, dass die europäischen Nationen mitverantwortlich sind an den Ereignissen in Syrien. Katar, Saudi Arabien und die Türkei sind von Anfang indirekt bis direkt an den Kämpfen beteiligt. Deutschland und andere europäische Länder liefern Waffen an diese Länder, und diese liefern sie weiter an die an den Kämpfen Beteiligten in der Auseinandersetzung um die territoriale Vorherrschaft in diesem Gebiet zwischen Schiiten und Sunniten. Flucht und Vertreibung sind ja die Folgen. Schon aus diesem Grund müsste Europa Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen. Diese Ignoranz und Kurzsichtigkeit der Politik und Wirtschaft rächt sich nun. Nicht nur den Flüchtlingen wurden unermesslich viel Leid und eine gewisse Perspektivenlosigkeit zugemutet, sondern auch der Bevölkerung der Einwanderungsländer eine verstärkte Belastung. Die knapp gehaltene bis fehlende Infrastruktur für die hiesige Einwohner, wie preiswerte Wohnungen, Kindergartenplätze etc. machen es möglich, dass populistische Kräfte an Zulauf bekommen. Meine gemischten Gefühle und der Anblick dessen, was ich tagtäglich erlebe und in den Medien präsentiert wird, lässt ein Gefühl von Ohnmacht aufkommen. Mich ärgert, dass die politische Klasse in Deutschland ein Einwanderungsgesetz vehement verhindert hat; ich war einer von denen, die seit den 1990ern für ein solches Gesetz eingetreten sind. Mit so einem Gesetz hätte das Land einen geregelten und inzwischen erprobten Rahmen gehabt, Einwanderungswellen wie zurzeit gesteuert anzugehen. Stichwort Religion: Ist der Islam kompatibel mit europäischen Werten wie Gleichberechtigung und Humanismus? Keine Religion, die ich kenne, ist richtig kompatibel mit den Grundwerten von Gleichberechtigung und Humanismus. Die europäischen Religionen wie die katholischen Richtungen, evangelisch, katholisch und orthodox, wurden ein Stück gezähmt durch die Säkularisierung. Diese hat die Kirchen dazu gezwungen, die humanistischen Grundwerte zu respektieren. Der Islam ist so lange nicht kompatibel, solange er die Trennung von Religion und bürgerlichen Rechte nicht anerkennt und im Alltag umsetzt. Ich wünsche mir schon, dass die bürgerlichen Kräfte in Europa eindeutig und unmissverständlich diese Trennung von den religiösen Gemeinschaften einfordern und dies nicht den populistischen Kräften überlassen. Was braucht es ihrer Meinung nach, um die Lebensweisen westlicher und arabischer Kultur in Europa friedlich zusammenzuführen?
Kulturelle, individuelle Begegnungen. Was bedeutet „Heimat“ für Sie heute? Im engen Sinne: ich bin meine Heimat. Im erweiterten Sinne, meine Familie ist meine Heimat. In Deutschland und Italien fühle ich mich zugehörig - und hin und wieder fremd. Was würden sie sich für die Zukunft Europas und der Welt wünschen? Europa ist meines Erachtens im Wesentlichen ein Raum für wirtschaftliche und Finanz-Transaktionen geblieben. Als Vielvölkerstaat ist Europa eine Fiktion. Ich wünsche mir, dass es eine offene Gesellschaft wird, die von der Vielfalt lebt. Ihr Lebenskonzept? Leben und Leben lassen. Eine gute Mischung zwischen Familienleben und Alleinsein. Eine gute Abwechslung zwischen Aktivsein und Entspannung. Aktiv sein und bleiben, solange mir meine mentale Effizienz und mentale Energie es erlauben. Vielen Dank für das interessante Gespräch. Web-Tipp: www.franco-biondi.de https://de.wikipedia.org/wiki/Franco_Biondi Fotos: die beiden US-Fotografen Robert Fogarty und Benjamin Reece haben syrische Flüchtlinge in einem Camp in Jordanien „mit Botschaften“ auf ihren Händen eindrucksvoll visuell dokumentiert. Die Botschaft des Titel-Fotos lautet: „Save Syrian Children“. www.syria.dearworld.me Interview: Helmut Wolf
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