Gesellschaftlicher Wandel. Zwischen „Hamsterrad“ und Work-Life-Balance. Soziologin Karin Jurcyk plädiert für unterschiedliche Lebensmodelle mit „sozialen Geländer“. Interview! „Zeitwohlstand“, Sinn in der Arbeit, Verunsicherungen und neue Chancen... Karin Jurcyk, Soziologin und Abteilungsleiterin für Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Themen rund um Familie, Beruf sowie alltäglicher Lebensführung und Zeit. Im nachfolgenden Interview, erläutert Jurcyk, warum Beschäftigte über Zeit und Ort ihrer Erwerbstätigkeit mitbestimmen sollten, warum wir alle Beziehungsmenschen sind und was der Begriff Sicherheit heute bedeutet... Frau Dr. Jurczyk, müssen wir uns vom klassischen Sicherheitsdenken, mit sozialer Absicherung, Jobgarantie für alle und ausreichender Pension verabschieden? Was ist das „klassische Sicherheitsdenken“? Wenn Sie damit die deutsche Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft der 60er- und 70er-Jahre assoziieren, mit Normalarbeitsverhältnis und Normal-familie, dauerhafter ökonomischer Absicherung, Frieden und einer scheinbar intakten Umwelt, antworte ich mit, ja. Hiervon müssen wir uns in der Tat verabschieden. Heute leben wir hier mit vielen neuen Unsicherheiten, allerdings immer noch auf einem hohen Sockel – insbesondere im Weltmaßstab – von Wohlstand und sozialer Absicherung. Was bedeutet für sie der Begriff „Sicherheit" im Bezug auf die Zukunft von Beruf und Familie? Insbesondere hier gilt es, die tradierte Vorstellung von Sicherheit hinter uns zu lassen. Bildungs- und Berufsverläufe sind vielfältiger geworden. Einen Beruf hat man nicht mehr unbedingt ein Leben lang, dafür muss (und kann) aber – insbesondere vor dem Hintergrund neuer Technologien – lebenslang gelernt werden. Ähnliches gilt für das private Leben. Auch hier haben sich die Formen der Gestaltung pluralisiert und es gibt immer wieder Brüche und Neuanfänge. Vor allem die egalitäreren Geschlechterverhältnisse haben hier viel Dynamik ausgelöst. Durch bessere Bildung und bessere Berufschancen von Frauen verliert das männliche „Ernährermodell“ an Bedeutung. Gleichzeitig stellt sich aber die Frage neu: wie kann Fürsorge für andere, vor allem für Kindern und alte Menschen, verlässlich erbracht werden. Sicherheit bedeutet in diesem Zusammenhang für mich, dass beide Geschlechter ein hinreichendes Erwerbseinkommen erwirtschaften können und gleichzeitig hinreichend Zeit für Sorge in Familie und anderen privaten Beziehungen bleibt. Sicherheit bedeutet, dass Frauen wie Männer Erwerb- und Sorgearbeit gut verbinden können, ohne in Armut zu fallen und im Stress zu versinken. Gesichert ist dann die Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Lebensmodellen in unterschiedlichen Lebensphasen, die alle ein soziales „Geländer“ haben. Selbstverständlich sind mit diesem gesellschaftlichen Wandel Verunsicherungen verbunden, aber eben auch viele Chancen. Die Arbeitswelt befindet sich im Wandel: Digitalisierung, Automatisierung und Globalisierung beschleunigen prekäre Jobs, projektorientiertes Kurzzeitarbeiten – vielerorts Arbeitslosigkeit. Wo müssten die Hebeln angesetzt werden, um eine sozial ausgewogene Arbeitswelt zu erreichen? Wir haben ja gleichzeitig unterschiedliche und ungleiche Entwicklungen: sowohl ein Anwachsen des Niedriglohnsektors und mehr prekäre Jobs, als auch – zumindest derzeit - eine Zunahme von Arbeitsplätzen und einen Anstieg von Qualifikationsniveaus. Ob die Digitalisierung tatsächlich zu einem vielfach befürchteten Arbeitsplatzabbau führt, ist umstritten. Und selbst wenn in bestimmten Branchen Arbeitsplätze verloren gehen, gäbe es genügend andere Bereiche, in denen händeringend nach Arbeitskräften gesucht wird - vor allem im Sozial- und Gesundheitssektor. Meines Erachtens geht es Erstens, um „gute Arbeit“ und nicht um Arbeitsplätze überhaupt - das heißt: um humane Arbeitsbedingungen. Hierzu gehört, zweitens, eine Umverteilung von Arbeitszeit – also, dass insgesamt betrachtet das Arbeitsvolumen auf mehr Köpfe verteilt wird. Ebenso wichtig sind, drittens, gerechtere Löhne, zwischen Frauen und Männern und zwischen Branchen und Tätigkeiten. Es gibt einfach keinen Grund dafür, dass ein Mechatroniker so viel mehr verdient als eine Kindererzieherin. In diesem Zusammenhang ist auch zu überlegen, wie an den Gewinnen von Unternehmen, die stark technologiegestützt und automatisiert produzieren, die Gemeinschaft und die Belegschaft teilhaben kann. Viertens, müssen Beschäftigte über Zeit und Ort ihrer Erwerbstätigkeit mitbestimmen können. Es gäbe gewiss noch viel mehr Punkte, vor allem, wenn man das ganze global denkt. Auf jeden Fall brauchen wir aber für all das ein starkes, auch europäisches oder internationales, Arbeitsrecht und starke Gewerkschaften. Die Regulierung auf nationalstaatlicher Ebene kommt angesichts einer globalisierten Weltwirtschaft vielfach an ihre Grenzen. Viele Menschen fühlen sich wie in einem „Hamsterrad“, spüren ein Bedürfnis nach mehr Sinn in ihrem (Arbeits-)Leben. Stichworte „Ehrenamt“, Work-Life-Balance, soziales Unternehmertum. Das geht aber oft nicht mit den Lebenserhaltungskosten zusammen. Gibt es hier alternative Modelle?
„Zeitwohlstand“ ist hier ein wichtiger Begriff. Wir brauchen zwar Erwerbsarbeit zur Existenzsicherung und je mehr „gute Arbeit“ wir haben, um so mehr finden wir ja auch Sinn IN der Arbeit. Aber: wir brauchen eben auch Zeit für anderes, was gesellschaftlich ebenso wichtig ist: Tätigkeiten für die Gemeinschaft, beispielsweise: Unterstützung bei der Integration von Flüchtlingen oder der Versorgung kranker Nachbarn. Oder eben Hilfe für andere Menschen, die uns Nahe stehen und die auf unsere Zuwendung und Versorgung angewiesen sind. Wir alle sind Beziehungsmenschen und wir alle sind - in manchen Lebensphasen mehr, in anderen weniger – auf andere angewiesen. Und: wir brauchen Zeit für uns selber - für unsere Regeneration und Entfaltung. Hier gibt es prinzipiell zwei Wege: der eine ist, eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeiten auf beispielsweise 32 Wochenstunden, zumindest mit teilweisen Lohnausgleich. Der andere, von mir favorisierte Weg, ist die Realisierung der „atmenden Lebensläufe“. Dieses Konzept umfasst all die aufgezählten Tätigkeitsbereiche, bezieht es aber auf den gesamten Erwerbsverlauf und macht auch Vorschläge zur Sicherung der Lebenshaltungskosten. Vielen Dank für das Gespräch! Interview Teil II Web-Tipp: www.dji.de Fotos: wellandgood.com (Titel), David Ausserhofer (Porträt), kandismarinophotography.com, etsy.com, archdaily.com, linkedin.com, berufebilder.de, ifairer.com, thechanger.org Interview: Helmut Wolf
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