Emigration und Neubeginn. Wie geht es Menschen, die Aufgrund ihrer Religion ihre Heimat verlassen mussten? Lisl Steiner musste als Jüdin 1938 Österreich verlassen. Im Buch „Witness“ erzählt die heute 88jährige über ihr bewegtes Leben... Als 11jähriges Mädchen musste Lisl Steiner unter dem Druck der Nazis Österreich verlassen. Gemeinsam mit ihrer Mutter emigrierte sie über Italien nach Argentinien und 1960 nach Amerika. Sie studierte Kunst und arbeitete als freischaffende Fotografin. Für renommierte Magazine wie „Life“ oder „Time“ hat sie Persönlichkeiten wie Jacqueline Kennedy Onassis, Richard Nixon, Fidel Castro oder Louis Armstrong porträtiert. Heute lebt sie in Pound Ridge, New York. Der Grazer Fotograf Meinrad Hofer hat Lisl Steiner und 15 andere Emigranten in seinem Buch „Witness“ in subtiler Art und Weise porträtiert. Hofer hat sich dabei auf die Gesichter „dieser letzten Zeugen“ konzentriert. Deren Blicke, Falten und Furchen dokumentieren einschneidende Lebensgeschichten und Erlebnisse. Gleichzeitig strahlt dabei auch eine immerwährende Hoffnung auf, die Mut macht: nach dem Verlust gibt es immer auch die Chance auf einen Neubeginn... Hier ein Textauszug aus Meinrad Hofers sensibel aufbereiteten Buches „Witness“ und Lisl Steiners Erzählung über ihre Emigration und ihr Leben zwischen den Kontinenten... „Meine Kindheit war eine sehr gute. Soweit ich mich erinnern kann, ging ich in die Schwarzwaldschule in den Kindergarten. Und ich glaube, dass damals die Kinder von Dollfuß auch in diese Schule gegangen sind. Die müssten in meinem Alter gewesen sein. Als Dollfuß ermordet wurde, ging damals die ganze Schule zur Aufbahrung. Mit sechs Jahren bin ich am Schoß von Adolf Loos gesessen, und auch von Otto Preminger. Mein Vater war ein Freund von diesen Leuten. Ich glaube, die trafen sich immer im (Café) Central. Und jedes Mal, wenn ich eine schlechte Architektur sehe - und ich erzähle allen, dass ich am Schoß von Adolf Loos gesessen bin – bin ich sehr kritisch. Als ich 1938 elf Jahre alt war, hat mein Vater beschlossen, seine Frau und sein Kind nach Argentinien zu schicken, wo er einen Bruder hatte. Dann hatte er auch einen Bruder in Chile. Das war ein großer Journalist. Wir gingen zuerst nach Triest. Wir waren unter keinem Druck Österreich und Wien zu verlassen. Aber mein Vater wollte nicht, dass seine Frau im Pelzmantel Latrinen putzt, was halt damals passierte. Also wir fuhren per Zug nach Triest, waren dort einige Monate. Dann haben wir ein Schiff genommen, das hieß Oceania, das nach Buenos Aires fuhr. Ich bin dort aufgewachsen. Ich glaube, ich habe in Wien die Schule in der dritten Klasse verlassen. Ich ging in eine Schule im 2. Bezirk, in die Sperlschule. Als ich im Jahre 1965 zum ersten Mal zurückkam, war da ein ganz kleiner Schneemann, den ich fotografiert haben. Das war sehr lustig. In Buenos Aires bin ich halt aufgewachsen, musste die dritte Klasse wiederholen, habe schnell Spanisch gelernt und hatte eine gute Jugend. Ich habe zehn Jahre Kunst studiert. Mein erster Job mit dreizehn war in einem Studio von einem Künstler und auch einem, der französische Gravuren verkaufte. Und ich habe diese illuminiert, also bemalt. Da waren unter anderem sehr erotische dabei, und so hatte ich da meine „sex education“. Ich lernte also Kunst, Zeichnen. Dann arbeitete ich in der argentinischen Filmindustrie. Ich arbeitete an 50 Dokumentarfilmen über die Schönheit von Argentinien. Ich war Assistentin. Das war die Zeit von Perón und Evita. Zu der Zeit habe ich auch ein paar Spielfilme gemacht. Eine junge Schauspielerin war die Paola Loew, die dann Friedrich Gulda geheiratet hat. Das war meine älteste Freundin. ...Im Jahr 1955 war eine Revolution in Argentinien. Ein lieber General kam ans Ruder (Eduardo Lonardi). Ein Demokrat. Er revolutionierte. Und ich habe ein Foto gemacht, bin ihm nachgefahren nach Ushuaia, das ist ganz unten in Argentinien und habe ihn fischend fotografiert. Und „Time“ und „Life“ waren davon entzückt: „General fischt“. Die haben mein erstes Bild gedruckt. Dann habe ich mir gedacht, ich arbeite an Filmen, die nichts bedeuten. Jetzt werde ich Fotografin. Dann habe ich Reportagen gemacht, „freelance“. Weil ich gesagt habe, ich will dieses freie Vogerl sein. Aber das ist keine gute Idee. Es ist besser „staff“ an einer großen Zeitschrift zu sein, finde ich. Dann wurde ich die Fotografin und staff von einer Zeitschrift in Brasilien, die hieß „O’Cruzeiro“. Ich habe Brasilia eingeweiht. Ich habe Oscar Niemeyer fotografiert. Ich bin in ganz Brasilien herumgefahren. Ich habe am Amazonas gelebt. Deswegen, es stört mich überhaupt nicht, ob es zu warm oder zu kalt ist. Ich denke nicht daran. Ich höre keine Wetterberichte – ich höre sie schon, weil es lustig ist zu sehen, wo es heiß ist, wo es kalt ist, aber es betrifft mich nicht. Im Jahr 1959 habe ich bei einer Konferenz der „Organisation der Amerikanischen Staaten“ (OAS) in Chile fotografiert. Habe mich in einen Mann verliebt, der bei „Time“ und „Life“ war. Eine Woche später, oder zwei, ist er nach Buenos Aires gekommen und hat um meine Hand angehalten. Ich bin mit einem Kinderprojekt durch ganz Südamerika gefahren: also vom Hungersterben bis zu den Rockefellers. ...In New York habe ich anscheinend meinen österreichischen, Wiener Akzent beibehalten. Und ich bin ein Chauvinist. Ein kleiner. Ich lebe am Land, eine Stunde von Manhattan und fotografiere weiter, aber ich behaupte dass ich nie etwas von der Fotografie verstanden oder gelernt habe. Ich bin ein „gut-photographer“. Ich fotografiere mit diesen Teilen meines Körpers (zeigt auf ihren Bauch). Und dann, wenn ich die Bilder ansehe und sehe, dass ich etwas Gutes habe, bin ich sehr froh darüber. Also nun bin ich 85 Jahre alt und ich liebe Wien. Ich komme immer wieder zurück und finde, dass es ein fantastisches Element ist. Diese jungen Leute sind eine neue Generation, die so wichtig ist. Ich habe natürlich Theorien, die ich aufstelle über Immigration; ich kann die ganze Welt richten, aber das machen wir ein anderes Mal. Oder? Danke.“ Textauszug von Lisl Steiners Porträt aus dem Buch „Witness“ von Meinrad Hofer. Buch-Tipp: WITNESS Von: Meinrad Hofer Text von Lisa Silverman Gestaltet von Tim Jahn 144 Seiten, 32 Farb- und 16 S/W-Abb. Erschienen bei: Kehrer Verlag, Heidelberg Web-Tipp: www.lislsteiner.com Redaktion: Helmut Wolf
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