Was vermittelt uns ein Urwald? Heute. Mitten in Europa. Vor allem eines: natürliche Lebenskreisläufe funktionieren ohne Einwirken des Menschen. Das Wildnisgebiet Dürrenstein zeigt einem das - und noch viel mehr... Eigentlich ist Hans schon in Pension. Aber wenn es darum geht kurzfristig einzuspringen, um als Ranger zur mehr als 1.000 Jahre alten Eibe im größten Urwald Mitteleuropas zu gehen, dann ist das keine Frage. „Ich habe erst gestern Abend davon erfahren diese Exkursion zu leiten, aber natürlich habe ich gleich zugesagt“, leuchten die fröhlichen Augen des nach wie vor agilen und fachkundigen Rangers. Als ehemaliger Mitarbeiter der „Schutzgebietverwaltung Dürrenstein“ in Niederösterreich, ist er bereits viele Male im letzten Urwald Mitteleuropas unterwegs gewesen. Und es ist für ihn nach wie vor ein besonderes Erlebnis, mit einer Gruppe „Urwald-Interessierten“ einen Tag in der Wildnis zu verbringen. „Viele Bäume sind hier wieder eingewandert“, erzählt Hans am Beginn der ganztägigen Bergtour des „Besuchs der tausendjährigen Eibe“. Es ist ein strahlend schöner Sommertag im Steinbachtal. Das Rauschen des Baches begleitet die Gruppe aus Naturliebhabern und Wanderern am Morgen. Es ist schon ein besonderes Gefühl, im Rahmen dieser „geführten Wanderung“ einen richtigen Urwald betreten zu dürfen. Und man sieht und spürt es auch gleich, dass sich hier Fauna und Flora frei und ohne Einwirken des Menschen entfalten können: da liegen Überreste eines toten Vogels, dort schimmern Pflanzen mit klingenden Namen wie Graslilie, Adlerfarn, Mondviole oder Silberschilling. Schmetterlinge flattern umher. Entlang des Baches wachsen romantisch anmutende Ölweiden. Hans erzählt von 32 Ameisenarten. „Die rote Knotenameise hat sogar einen Stachel“, erfährt die staunende Gruppe. Es ist eine relativ anspruchsvolle Bergwanderung im Westteil des Wildnisgebietes. Rund 400 Höhenmeter werden wir an diesen Tag noch hochsteigen - und wieder hinuntersteigen. Der Sonnenschein eröffnet uns einen unvergleichlichen Blick auf die Südwestseite des rund 1.900 Meter hohen Dürrensteins. Wir gehen keine geräumten Wanderwege, sondern marschieren auf weglosem Gelände, über „unaufgeräumte“ Pfade einen bewaldeten Bergrücken hoch. Überall liegen umgestürzte Bäume, dazwischen sprießen Pilze, neue Pflanzen, wuchern Sträucher, wachsen kleine Bäume heran. Rund 20 Baumarten gibt es im größten Urwaldrest des Alpenbogens. Den Großteil nehmen Buchen-Tannen-Fichtenwälder ein. Ein Urwald? Heute? „Die sehr abgelegene, schlechte „Bringungslage“ des Urwalds, in der Grenzlandschaft zwischen Niederösterreich und der Steiermark, haben von jeher Jagd- und Forstwirtschaft verhindert“, erzählt Hans. (Ökonomisch) Schlecht für den Menschen, gut für Natur und Umwelt. Der größte Urwald Mitteleuropas bietet heute auf rund 3.500 Hektar Fläche einen Lebensraum für viele seltene Tier- und Pflanzenarten. Nur hier gibt es spezielle Schmetterlingsarten („Ameisenbläuling“ usw.), flattert das Alpenschneehuhn, finden Habichtskauz und bunt-schimmernde Libellen im Hochmoor ihren Lebensraum. Und was wahrscheinlich noch viel mehr zählt: es zeigt sich eine Landschaft, die ganz ohne Einwirken des Menschen wunderbar funktioniert. „Hier soll kein bestimmter Zustand konserviert werden, sondern dürfen natürliche Prozesse weitestgehend ohne Einfluss des Menschen ablaufen“, lautet entsprechend der Grundsatz der Schutzgebietsverwaltung. Es hat hier Bären gegeben. Immer wieder ziehen auch Wölfe durch das Wildnisgebiet. Ein älterer Teilnehmer der Gruppe erzählt von einer Begegnung mit einem Bären vor vielen Jahren. Etwa 10. bis 12.000 Jahre ist der Urwald alt, erzählt Hans. Und schließlich war es die Idee des Unternehmers Albert Rothschild im Jahr 1875, großflächige Wälder vor dem forstlichen Zugriff und der Zerstörung für sich und die Nachwelt zu bewahren. Dies und anderen Umständen ist es zu verdanken, dass heute rund die Hälfte des Wildnisgebietes Dürrenstein zum UNESCO-Weltnaturerbe erhoben wurden. Die Schutzkategorie „Wildnisgebiet“ bezeichnet dabei die höchste Schutzkategorie gemäß IUCN (Weltnaturschutzorganisation). Wegen seiner Ursprünglichkeit und Unberührtheit, ist das Gebiet das erste und einzige Wildnisgebiet Österreichs. „In einem toten Baum ist mehr Leben, als in einem gesunden“, zeigt sich Ranger Hans begeistert von der Lebendigkeit des „Totholzes“. Unglaublich, was sich in den abgestorbenen Bäumen, Ästen und scheinbar kaputten Holz wieder an Leben und Blüten entwickelt. Der Winter ist in dieser gebirgigen Landschaft die alles dominierende Kraft. Das lassen die Lawinenschneisen an den Berghängen des Dürrensteins deutlich erkennen, wo große Furchen mit umgestürzten Bäume in den Wäldern zu sehen sind. Dennoch – und auch trotz massiven Borkenkäferbefalls - regenerieren sich Wald und Natur immer wieder aufs Neue, wie die Monitoring-Kameras beweisen. Pflanzen haben Seelen... Das Ziel unserer Tour durch den Urwald, die mehr als tausendjährige Eibe, ist dann weniger spektakulär als erwartet. Erst bei näherer Betrachtung – keine Insekten, kein Pilzbefall - und den bildhaften Geschichte von Hans – „Eiben wachsen „zweihäußig'“ heran, also männlich und weiblich separat“ -, wird aus einem uralten Baum ein lebendiger und „tragender“ Bestandteil unserer Welt. Was könnte uns dieser tausend Jahre alte Baum alles erzählen? „Geschichten über Bäume zeigen uns, dass Pflanzen Seelen haben“, bringt es Hans philosophisch auf den Punkt. Ein schöner Satz, der uns bis zur Abkühlung im Bach am Ende der Urwald-Tour begleitet... Web-Tipp: www.wildnisgebiet.at Text: Helmut Wolf
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