Die Zukunft des Reisens? Die Corona-bedingte „Zwangsentschleunigung“ im Tourismus könnte den generellen Durchbruch nachhaltiger Konzepte bedeuten. „Bodengebundene Reisen und mehr Beziehungserfahrungen“ prognostiziert Zukunftsforscherin Anja Kirig... „Maximale Sicherheit, Transparenz, Offenheit und Ehrlichkeit. Dies alles verknüpft mit Erholung, Lebenslust und Freude“. Was Matthias Winkler, Geschäftsführer des legendären Wiener Hotel Sachers hier kurz und deutlich formuliert, könnte für viele (Reise-)Unternehmen ein Credo der Zukunft werden. Die Corona-Krise hat Menschen und Tourismusbetriebe gleichermaßen verunsichert. Massentourismus und „Erlebnisreisen“, wie sie bisher vollzogen wurde, lassen sich mitsamt Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen nicht mehr aufrechterhalten. Fernreisen fallen aus. Eine Chance für einen grundlegenden, nachhaltigen Wandel in der Reisebranche… So gut wie keine Reiseflugverbindungen. Ausgangsbeschränkungen und Quarantäne-androhungen. Corona-Cluster in Tourismusregionen... Die Tourismusindustrie zählt zu jenen Branchen, die weltweit am stärksten von der Coronakrise getroffen wurden: Einen Rückgang von bis zu 70 % prognostiziert die OECD für 2020 im internationalen Tourismus, im Vergleich zum Vorjahr. Vielerorts wird versucht „zurück zur Normalität“ zu finden. Doch: Was bedeutete „Normalität im Tourismus“ bisher? Overtourism in Venedig. Flüge im Minutentakt auf vielen Mittelmeerinseln. Müll- und Umweltprobleme auf den Malediven und vielen Stränden Thailands. Menschenmassen an Instagram-tauglichen Insider-Hot Spots. Grenzenloser Hyper-Konsum in vielen Ferienressorts… Die Folgen sind bekannt. „Reisen ist und bleibt ein elementares menschliches Bedürfnis. Daran wird auch die Coronakrise nichts ändern“, sagt die deutsche Trend- und Zukunftforscherin Anja Kirig. Doch: Das Virus markiert eine „Stunde null“ für die Tourismusbranche. Was vor Corona gegolten hat, ist nicht mehr gültig. Alles wird anders, und doch bleibt die Reiselust bestehen. „In der Unterwegskultur nach Corona werden andere Spielregeln gelten“, sagt Kirig. Regeln, die nicht nur stärker von lokalen, globalen und sozialen Faktoren abhängig sind, sondern zunehmend von den Reisenden selbst gestaltet werden. „Leitend wird dabei das Grundbedürfnis nach Beziehung sein“, umschreibt Kirig den Trend zu mehr Qualität und Nachhaltigkeit. Eine Form von Austausch zwischen Reisenden und lokaler Bevölkerung, wo auch örtliche Kulturen und ökologische Verantwortung eine Rolle spielen … Kurze Wege und Naherholung. Zwei Komponenten, die ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Ebenso wie vertraute Kulturkreise eine emotionale Sicherheit versprechen, glaubt Kirig an die „Wiederentdeckung“ lokaler und nahe gelegener Landschaften. Doch auch überregionale Destinationen können profitieren, wenn sie hohe (Qualitäts-)Standards garantieren können - beispielsweise zuverlässige Bedingungen in Sachen Gesundheitsversorgung, Infrastruktur und (Rückreise-)Transport. Das Bedürfnis der Reisenden umfasst nicht nur Erholung und Unterhaltung, sondern vielmehr „intensive Erfahrungen und authentische Erlebnisse mit Menschen und Dingen“, sagt die Trend-Forscherin - zusammengefasst im Überbegriff: „Resonanz-Tourismus“. Die „Zwangsentschleunigung“ durch Corona bietet allen Akteuren in der Reisebranche jedenfalls die Chance, sich neu zu positionieren. „In der Zeit nach der Krise wird es darum gehen, Reisenden Angebote zu unterbreiten, die ihnen sowohl Sicherheit als auch Resonanz- und Transformationserlebnisse ermöglichen - orientiert an ökologischen und gemeinschaft-lichen Werten“, glaubt Anja Kirig vom Zukunftsinstitut. Reiseziele werden zukünftig bewusster und achtsamer gewählt. Als „bodengebundene Reisen“, umschreibt die Trendforscherin diese Form des Tourismus. Hier ist das „holistische Gesundheitsverständnis“ ebenso ein wichtiger Aspekt, wie die Idee der „Glokalisierung“ von Tourismusregionen – also die Verschmelzung lokaler und globaler Perspektiven. Chancen für „verschlafene Orte und Regionen“. Die Entwicklung zu mehr Achtsamkeit und Entschleunigung beim Reisen, könnte weniger bekannte Orte und Institutionen aus ihrem Dornröschenschlaf wecken. Nachhaltige Tourismus-Plattformen, wie beispielsweise die „Alpine Pearls“ oder „Bergsteigerdörfer“, haben schon bisher gezeigt, wie Wirtschaftlichkeit und verantwortungsvolles Reisen erfolgreich verknüpft werden können. Nun scheint sich ein tiefgreifendes Potenzial für mehr Minimalismus und Nachhaltigkeit im Reisesektor aufzutun. Besonders gefragt sind dabei „Microabenteuer“ und Slow Travel-Erlebnisse: Sich Einlassen auf das Unbekannte, auf Langsamkeit und auf: Weniger ist mehr. Jenes „langsame Reisen“, das auch im Alltag und in der nahen Umgebung genossen werden kann... „Der Wunsch nach nachhaltigen Beziehungserfahrungen, wird durch Erfahrungen, die jeder Einzelne im Kontext der Krise machte, enormen Aufschwung und Kraft erhalten", ist sich Trendforscherin Anja Kirig sicher. „Der Post-Corona-Tourismus wird deshalb ein Beziehungs- und Entwicklungstourismus sein“. Die Zukunft des Reisens? Wahrscheinlich werden wir weniger reisen, aber mehr für „besondere Urlaube“ ausgeben: Das kann ein Fahrrad-Ausflug oder eine Wanderreise in die unmittelbare Umgebung sein, oder auch ein Trip mit Zelt oder Van an einen nahegelegenen See oder Fluss. Sommer 2020 heißt „Staycation": Wir bleiben zu Hause - machen Urlaub im eigenen Land, in der eigenen Umgebung, in der eigenen Stadt, im eigenen Viertel. Und dabei entdecken wir, dass das Schöne oft ganz Nahe liegt - und leicht erreichbar ist. Ganz ohne mühsame Anreise und Stau... Web-Tipps:
www.alpine-pearls.com www.bergsteigerdoerfer.org Fotos: Bergersteigerdorf Ramsau/Berchtesgaden von Wolfgang Ehn (Titelfoto); Marina Hinic, Roman Odintsov, Porapak Apichodilok, Tirachard Kumtanom / Pexels; Thomas Fabry Quelle: Zukunftsinstitut Text: Helmut Wolf
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