Sie war Opfer eines Attentats, lebt mit ständigen Drohungen. Dennoch setzt sich die in Istanbul geborene, heute in Berlin lebende Rechtsanwältin und Autorin Seyran Ateş unbeirrbar gegen die Unterdrückung muslimischer Frauen ein. Ein mutmachendes Interview! Die Herausforderung unseres Jahrhunderts wird es sein, in der islamischen Welt für Demokratie, Freiheit und Geschlechtergerechtigkeit zu kämpfen, sagt Seyran Ateş, 53. Die Menschenrechtsaktivistin nimmt in der Öffentlichkeit seit vielen Jahren kritische Stellung zu Themen wie Kinderehe, häusliche Gewalt in muslimischen Familien und Migrationsfragen. Trotz vieler Diskussionen: Demokratie und Islam sind für sie kein Widerspruch. Für Aufsehen gesorgt hat ihr Engagement gegen die Zwangsheirat in Deutschland: mit ihrer Forderung, diese in das deutsche Strafgesetzbuch als eigenen Straftatbestand aufzunehmen, konnte sie sich durchsetzen. Seit 2011 ist die Zwangsheirat in Deutschland ein eigener Strafbestand. Das Thema religions- und traditionsbedingte Gewalt an Frauen und Kindern ist nach wie vor eines ihrer Schwerpunkte. Im nachfolgenden Interview zeigt sich Rechtsanwältin Seyran Ateş kämpferisch: „Solange ich helfen kann, helfe ich“. Ein Gespräch über eine neue Frauenbewegung, zivilen Ungehorsam und modernes, freies Leben. Liebe Frau Ateş, sind Islam und Moderne nicht vereinbar? Selbstverständlich sind der Islam und die Moderne vereinbar. Die Frage ist, von welchem Standpunkt aus man das Thema betrachtet. Der Islam ist eine Religion, die Moderne ist der Zustand einer Zivilgesellschaft. Ein islamischer Fundamentalist wird die Ansicht vertreten, dass der Islam das Maß aller Regeln im Zusammenleben der Menschen ist. Die Moderne bricht mit veralteten Traditionen, egal ob sie kulturell oder religiös bedingt sind und folgt der Aufklärung. Geht man davon aus, dass die Religion das innere menschlichen Daseins beschreibt und die Moderne das äußere, dann können Menschen sehr wohl beides miteinander in Einklang bringen: indem sie in einer modernen Gesellschaft ihre Religion zeitgemäß leben. Ein zentraler Aspekt islamischen Denkens ist die „Unantastbarkeit des Koran“. Politologe Hamed Abdel-Samad meint, es kann hier keinen Fortschritt des Wissens geben, da die „Wahrheit“ bereits offenbart wurde. Keine Chance für Aufklärung und Neues? Dem muss ich widersprechen. Ja, der Koran gilt als unantastbar. Aber er gilt nicht als eindeutig und endgültig gedeutet. Zudem verhält es sich beim Koran wie mit der Bibel: beide Schriften sind in ihrer Zeit zu betrachten, und vieles - in beiden Büchern - ist eher als Metapher zu begreifen. Natürlich sehe ich dennoch, vor allem was die Gleichberechtigung der Geschlechter anbelangt, Unvereinbarkeiten mit den Menschenrechten. Daher steht uns eine Mammutaufgabe bevor, den Koran geschlechtergerecht auszulegen. Beim Islam, so scheint es, gehe es nicht um eigenständiges Denken, Lernen oder Hinterfragen, sondern um das strikte Befolgen der „offenbarten Botschaft“. Was ist ihre Meinung dazu? So habe ich meine Religion nicht kennengelernt. Der Islam fordert den Menschen auf zu forschen und zu hinterfragen. Diese Tugenden sind nicht unbedingt von den Gelehrten - hauptsächlich konservative Männer - als Tugenden in den Vordergrund gestellt worden. Daher wird eher jener Islam praktiziert und kultiviert, der ausschließlich Unterwerfung, unkritisches Denken und Befolgen abverlangt. Eine Religion, die die Frau entweder als Besitz des Mannes oder als Gefahr für seine Moral sieht, sei mitverantwortlich an sexuellen Übergriffen, sagen Experten. Wie kann die Rolle der muslimischen Frau gestärkt werden? Das Beste was Frauen machen können ist, den Männern die Deutungshoheit für unsere Religion zu nehmen. Die Männer werden ihre Vorherrschaft nicht freiwillig aufgeben. Frauen müssen sich Rechte nehmen und ihren Platz als Theologinnen einnehmen, um ihre Position zu verbessern. Kein Mensch ist Besitz eines anderen Menschen. Wir sind alle höchstens Diener und Dienerinnen Allahs. Unsere Demut gilt der höchsten Kraft und Macht, nicht dem Mann. Das ist ein Lernprozess. „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ haben sie in ihrem gleichlautenden Buch gefordert. Wird bzw. kann es diese Revolution geben? „Die sexuelle Revolution“ ist ein politischer Begriff. Dabei geht es nicht nur um Sex an sich, sondern vor allem auch um gesellschaftliche Umbrüche und Verabschiedung von menschenverachtenden Traditionen. Dazu gehört unter anderem die Verabschiedung von der Selbstverständlichkeit der Einmischung in die sexuelle Selbstbestimmung durch religiöse Institutionen oder Familienangehörige. Dies sind Forderungen, die im Zusammenhang mit der Demokratisierung eines Landes stehen. Denn die sexuelle Selbstbestimmung ist ein Teil der bürgerlichen Freiheitsrechte. In sämtlichen islamischen Ländern wird noch um die eigentliche Freiheit im wahrsten Sinne des Wortes gerungen. Vereinzelt leben Menschen in ihren Subkulturen durchaus absolut frei und sexuell selbstbestimmt. Der Mainstream ist jedoch veraltet, archaisch, patriarchal. Ich sehe positive Veränderungen. Die islamischen Machthaber und Terroristen haben das ebenfalls begriffen, dass die heranwachsenden Generationen, einhergehend mit der Globalisierung, sich nicht mehr unkritisch veralteten Traditionen und Machtverhältnissen unterwerfen werden. Die Revolution ist sozusagen längst im Gange. Der Zugriff auf Porno-Videos in islamischen Ländern ist besonders hoch. Gleichzeitig steigt die Zahl verschleierter Frauen auf den Straßen. Schafft diese Dualität nicht ein gestörtes Verhältnis zwischen Männern und Frauen? Islamische Kulturen leiden unter einer extremen Sexualisierung der Gesellschaft und des Alltags. Gleichzeitig leiden Muslime unter einer extremen Unterdrückung ihrer Sexualität. Die Verschleierung dient der Verhinderung von sexuellen Gelüsten, die sich aber so nicht „wegdrücken" lassen. Bekanntermaßen sind in sämtlichen Ländern, in denen die Verschleierung angeordnet oder gesetzlich verlangt wird, sexuelle Übergriffe - auch verschleierten Frauen gegenüber - an der Tagesordnung. Sie haben mit der Zunahme der Verschleierung sogar zugenommen. Sie setzen sich für die Rechte unterdrückter muslimischer Frauen ein. Liegt das Fundament für den positiven Wandel bei den Muslimen in der Familie? Die Großfamilien sind der Herd allen Übels: soziale Kontrolle, Misstrauen, Missgunst und Machtkämpfe verhindern modernes, freies Leben. Leider! Von den positiven Seiten einer Großfamilie sieht man kaum noch etwas. Da sich die Familienangehörigen ständig gegenseitig kontrollieren und religiös-moralisch richtiges Verhalten abverlangen, brechen meist nur einzelne sogenannte „schwarze Schafe“ aus, die für Veränderungen kämpfen. Neben der Bildung der Kinder, müssen Eltern gebildet und aufgeklärt werden. Daher ist Erwachsenenbildung ein wichtiger Schritt für den Wandel in den Familien. Sie waren vor einigen Jahren selbst Opfer eines Attentats, wurden bedroht. Was gibt ihnen die Kraft, sich weiter für Frauenrechte und Integration einzusetzen? Offensichtlich gehört das zu meiner Lebensaufgabe. Sobald ein Mensch vor mir steht, der Hilfe braucht und ich in der Lage bin zu helfen, überlege ich nicht lange... Solange ich helfen kann, werde ich das tun. Wenn Menschen meinen, dass sie mich deshalb umbringen müssen, dann suche ich Zuflucht bei Allah. Seit ich das Attentat überlebt habe, habe ich keine wirkliche Angst vor dem Tod. Ich habe nur Angst, dass ich zu früh sterbe und meine Tochter zu früh allein zurücklasse. Wie erziehen sie ihre Tochter in Bezug auf die Stärkung muslimischer Frauen? Und: wie würden sie ihren Sohn erziehen? Natürlich erziehe ich meine Tochter zu einem freien und selbstbestimmten Wesen. Sie ist sehr rebellisch, auch mir gegenüber. Das ist gut so, macht mich stolz und freut mich. Als Muslimin lebe ich ihr vor, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch sind. Mein Erziehungsprinzip nennt man, glaube ich, Authentizität. Hätte ich einen Sohn wäre das nicht anders. Ihr schönstes (Erfolgs-)Erlebnis bei ihrer Arbeit? Jede einzelne Mandantin, die sich nach einigen Jahren bei mir meldet und sagt, dass sie frei und glücklich lebt. Was würden sie sich für die Zukunft wünschen? Weltfrieden?! Und: Eine neue Frauenbewegung, mehr zivilen Ungehorsam, wie in den 60-er und 80-er Jahren in Europa. Ihr Lebenskonzept? Sei Realistisch, fordere das Unmögliche! Danke für das Gespräch! Buch-Tipp: „Der Multikulti-Irrtum“ Von: Seyran Ateş 288 Seiten Erschienen bei: Ullstein Web-Tipp: www.syranates.de Fotos: das muslimische, in England lebende Model Mariah Idrissi (u. a. H&M) Interview: Helmut Wolf
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