Auf eigenen Beinen stehen. Trotz Querschnittlähmung. Ein „robotisches Exoskelett“ ermöglicht es Anna Reiter, 26, wieder in „Gang zu kommen“. Eine „bahnbrechende Therapie“ für Menschen mit neurologischen Einschränkungen. Aber auch ein mutmachender Perspektivenwechsel. Interview und Reportage! „Ich bin mit 1.80 Meter recht groß“, erzählt Anna Reiter. „Vor meinem Fahrradunfall habe ich zumeist auf die Menschen heruntergeschaut. Das hat sich nach meiner Querschnittlähmung verändert. Alleine nur auf die Menschen hinaufzuschauen war eine große Umstellung für mich. Mit dem Exoskelett kann ich nicht nur auf eigenen Beinen stehen und Schritte gehen, sondern den Leuten auch auf Augenhöhe begegnen. Das eröffnet neue Sichtweisen - und es motiviert.“ So kann Reiter beispielsweise wieder ihre Zehen bewegen - „obwohl der Nerv hier den längsten Weg nehmen muss“. Und auch sonst ist sie von der ganzheitlichen Wirkungskraft dieser Therapieform überzeugt... „tech2people“-Therapieprogramm. Seit vier Jahren ist die Oberösterreicherin querschnittsgelähmt. Reiter ist eine der Teilnehmerinnnen des im Vorjahr in Österreich gestarteten „tech2people“-Therapieprogramms. Gegründet wurde das Start-up tech2people von Unternehmensberater Gregor Demblin, der seit seinem 18. Lebensjahr querschnittgelähmt ist, und dank des Exoskeletts wieder zum ersten Mal eigene Schritte setzen konnte. Eine grundlegende Veränderung in Demblin‘s Leben. Eine Veränderung, die er auch vielen anderen Menschen mit Gehbeeinträchtigungen „zugänglich“ machen möchte. Gemeinsam mit Physiotherapeut Dennis Veit, dem IT-Spezialisten Michael Seitlinger sowie Sponsoren und Partnern wie Saturn oder der Kapsch AG, soll die Exoskelett-Therapie tausenden Menschen „eine deutliche Verbesserung von Gesundheit und Lebensqualität schaffen“. Wie funktioniert die „Exoskelett-Therapie“? Das Exoskelett ist ein batteriebetriebener, über der Kleidung tragbarer „bionischer Anzug“. Das Gewicht beträgt rund 27 Kilogramm. Seine elektrischen Motoren bewegen die Beine und ergänzen - oder ersetzen - Muskelfunktionen. Die Schrittfolge wird durch Gewichtsverlagerung des Benützers ausgelöst. Im Fußbereich verfügt das Exoskelett über Sensoren, die die Kraftreserven des Benützers messen. Ein Prozessor errechnet dann, was zu einem „normalen Schritt“ noch notwendig ist und gleicht den Bewegungsablauf aus. „In Bezug auf den Therapieeffekt ist das sehr effizient und je nach Intensität zwar durchaus fordernd, aber für den Therapeuten weitaus weniger anstrengend“, betont tech2people-Mitgründer Michael Seitlinger. Die Messdaten könne man bestens evaluieren und für wissenschaftliche Zwecke oder als Evidenzwerte für die Krankenkassen verwenden. Aber auch für den Patienten sind die gemessenen „Fortschritte“ eine gute Motivation... Geübte Patienten gehen rund 800 Schritte mit dem batteriebetriebenen, robotischen Exoskelett. Gregor Demblin erreicht sogar 1.200 Schritte in einer Einheit. Ziel der Therapie ist es, das Gangbild zu verbessern und wieder anzulernen. Ein Therapeut begleitet die Therapie und kann über das Bedienungspanel (am Rücken) ein „Unterstützungsprogramm“ je nach Bedarf einstellen. „Die individuelle Anpassbarkeit auf den Benutzer, sowie die hohe Intensität und Effizienz sind einzigartig. Das bestätigen uns alle Mediziner, mit denen wir in Kontakt sind“, sagt Seitlinger (Foto links). Auch die Zufriedenheit der Patienten ist groß: rund 150 Patienten absolvieren bereits die Exoskelett-Therapie in Österreich. Vor kurzem hat man in Wien-Speising zwei Ordinationen eröffnet. Ziel ist es, so Seitlinger, ein Therapiezentrum aufzubauen, weil es hierzulande keinen Zugang zu dieser Therapieform gibt. Und da die Kassen derzeit keinen Kostenanteil übernehmen, sind weitere unterstützende Sponsorings ein Gebot der Stunde. Was sind die besonderen Vorteile? „Ich habe Spastik in den Füßen“, sagt Anna Reiter. „Nach der Exoskelett-Therapie ist bei mir immer ein bis zwei Tage wirklich Ruhe.“ Der Effekt bei einer konventionellen Gangtherapie sei dagegen weitaus geringer. Zudem wird durch den aufrechten Bewegungsablauf der Therapie Herz- und Kreislaufsystem in Schwung gebracht, das Immun-system gestärkt und - durch das Gewicht auf den Knochen - Muskeln und Sehnen durchbewegt. Ein Training, dass das gesamte Wohlbefinden steigert – physisch und psychisch. „Wenn du plötzlich wieder stehen kannst, die ersten Schritte machst – kann man gar nicht beschreiben, was da für ein Gefühl ist“, erzählt Reiter. Derzeit ist sie schwanger und muss pausieren. Sobald das Baby im kommenden Frühjahr da ist, möchte sie die Therapie „natürlich fortsetzen“. „Bewegung ist für den menschlichen Körper lebenswichtig – er ist dafür ausgelegt“, sagt Siegfried Meryn, Professor an der Medizinischen Universität Wien. Deswegen sei neben dem Muskelschwund auch der Knochenabbau im Laufe der Zeit ein typisches Symptom bei Menschen mit Lähmung und beeinträchtigter Gehfähigkeit. Aber auch die Funktion der inneren Organe, etwa des Magens oder des Darms, leidet - sowie der Kreislauf. Die Therapie mit dem Exoskelett ist daher nicht nur ein psychisch ‚bewegendes‘ Erlebnis – sie hält auch gesund“, unterstreicht Meryn die Wirkung. Zielgruppe der Therapie sind nicht nur Menschen mit Querschnittlähmung. Auch Patienten nach Schlaganfällen, mit Multipler Sklerose (MS) oder Schädel-Hirn-Traumata, finden hier eine besondere Hilfestellung. Das Potenzial ist jedenfalls groß: Etwa 25.000 Menschen erleiden jährlich in Österreich einen Schlaganfall. 50.000 Menschen sind auf einen Rollstuhl angewiesen. „Hoffnung und Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben“. „Es geht hier um viel mehr als eine bahnbrechende Therapiemaßnahme für Menschen mit eingeschränkter Gehfähigkeit. Mit dem Exoskelett geben wir Hoffnung und die Möglichkeit auf ein einfacheres und selbstbestimmtes Leben. Ich bin stolz darauf, bei diesem mutigen und visionären Projekt mitwirken zu dürfen“, sagt Georg Kapsch, der mit der Kapsch AG als einer der Hauptsponsoren diese Initiative fungiert. Welches Innnovationspotenzial in dem von der US-Firma „Ekso Bionics“ entwickelten, robotischen Exoskelett liegt, zeigen die weiteren Entwicklungsschritte: So wird in den USA bereits mit querschnittgelähmten Kindern trainiert (Derzeit ist die Therapie in Österreich erst ab Körpergröße 1,50 m möglich). Aber auch in Kombination mit den Bereichen Gaming oder Virtual Reality (VR) werden neue Wirkungsbereiche ausgelotet.
„Nie aufgeben und die Hoffnung nicht zerstören lassen“. So umschreibt Anna Reiter ihr persönliches Lebenskonzept. Für sie geht es darum selber Grenzen zu setzen und sich diese nicht von anderen diktieren zu lassen. Und sie hat auch schon klare Ziele: Ihr kleines Ziel lautet, immer mehr Schritte gehen. Das große Ziel: längere Zeit - mit Hilfe - auf eigenen Beinen stehen. Das Exoskelett hat ihr Leben jedenfalls wieder ordentlich „in Gang“ gebracht... Web-Tipps: www.tech2people.at www.tech2people.at/unterstuetzen/spenden www.kapsch.net Text: Helmut Wolf
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