Bär und Mensch? Wildnis und Zivilisation? Passt das zusammen? Ja, sagt Marc Graf, Ökologe und preisgekrönter Naturreportage-Fotograf. Im Gegenteil: es braucht (wieder) mehr wilde Tiere, mehr Wildnis und mehr natürliche Ökokreisläufe. Ein Interview über die lebensnotwendige, „wilde Vielfalt" für Mensch und Umwelt... „Rührt man an einem einzelnen Ding in der Natur, entdeckt man, dass es mit dem Rest der Welt zusammenhängt.« John Muir, Gründer des US-Nationalparks „Yosemite“ „Vier Bären haben wir an einem Tag gesehen“, erzählt Marc Graf. Als er mit seinen Eltern vor zwei Jahren in Südslowenien unterwegs, waren diese mehr als erstaunt: solche Begegnungen an nur einem Tag – und dann noch mit dem größten Raubtier Europas? Wo bleibt der mediale Aufschrei? Wo die Aufregung in der Bevölkerung und bei den Landwirten? Die Menschen hier in den slowenischen Gemeinden und Regionen rund um Kočevje, Loška Dolina oder Notranjska stoßen sich nicht an der Präsenz der Bären. Die „bummeligen Wildtiere“ laufen über Straßen, stibitzen manchmal Zwetschken von den Bäumen, aber sie werden nicht zu „Problemtieren“ stilisiert – warum? Warum funktionert das Zusammenleben mit Bär, Wolf und Luchs in Slowenien? Südslowenien - 150 km Luftlinie von der österreichischen Grenze entfernt, und dennoch - eine andere Welt. Dichte Mischwälder, Kalkfelsen, mittelhohe Berge... Die Landschaft erinnert an die Kalkalpen Oberösterreichs. Im Süden Sloweniens findet man die dichteste Braunbär-Population der Welt: Fast 1.000 Braunbären leben hier - auf einer Fläche so groß wie das Mostviertel. In Koexistenz mit Bevölkerung und Landwirtschaft. Das heißt: Rinder, Pferde und Schafe grasen auf Weiden, Familien gehen im Wald Wandern oder Pilze suchen. Jogger und Mountainbiker sporteln, Förster und Jäger betreiben Wald- und Tierpflege... Die Frage, die sich dem Mitteleuropäer dabei stellt: Warum funktioniert das Zusammenleben mit Mensch und Wildtier? Und welche Erkenntnisse können daraus in Österreich, der Schweiz, in Deutschland oder Italien gezogen werden? ![]() Kann ein Foto Bewusstsein schaffen? Für den österreichischen Fotografen sind Begegnungen mit dem europäischen Braunbär („Ursus arctos arctos“) stets ein eindrucksvolles Erlebnis. „Wenn ein Bär durch das Gestrüpp läuft, klingt das anders als ein Reh oder Hirsch. Das ist ein unvergleichliches Geräusch“, erzählt Graf. Dennoch: Mit einem Schnippen schreckt der Braunbär auf, vergisst seine 200 kg Eigengewicht und Kraft und läuft davon, schmunzelt der studierte Ökologe beim Gespräch. Seit 2015 ist er immer wieder im Süden Sloweniens unterwegs. Gemeinsam mit Partnerin Christine Sonvilla bildet er ein professionelles Naturreportage-Duo. Als „Wildlife Photographer of the year“ setzen die beiden Raubtiere fotografisch eindrucksvoll in Szene. Und sie sind überzeugt davon: „Starke Bilder vom funktionierenden Miteinander von Mensch und Raubtier, bleiben in den Köpfen hängen“. Warum braucht es Wildnis? Warum braucht es (Raub-)Tiere? Besonders in Zeiten zunehmender Urbanisierung bzw, Verstädterung unserer Erde, und einer zum Teil weit-verbreitenden Entfremdung von Natur und Umwelt, kommen immer mehr Wissenschaftler zum Schluss: Natur-Kontakte - vor allem in „natürlich-wilden Regionen“ - könnten ein wichtiges Grundgerüst sein, um ein allgemeines Verständnis für Umwelt(-schutz) und Nachhaltigkeit zu erzeugen. Laut UN-Angaben lebt heute schon jeder zweite Mensch in der Stadt. Viele Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS (bei Kindern), Depression, Kurzsichtigkeit oder Fettleibigkeit, seien Folgen mangelnder Erlebnisse im Freien. Der US-Journalist Richard Louv hat dazu den Begriff „Natur-Defizit-Syndrom“ entwickelt. „Eine zunehmende Distanz zwischen alltäglicher Lebenswelt und ihrem natürlichen Fundament, wird besonders jungen Menschen attestiert“. Dies haben Wissenschaftler des Projekts „YOUrALPS – Jugend in den Alpen“ in einer Studie analysiert. Einer Organisation, die sich besonders um die „Rückverbindung Jugendlicher zum alpinen Erbe“ bemüht. Ob Herkunft von Lebensmittel, ökologische Kreisläufe oder Konsumverhalten im Zusammenhang mit Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung: „Mit zunehmender Technisierung des Alltags, geht eine Beschleunigung des Wandels der Verhältnisse zur Natur einher“, so die YOUreALPS-Wissenschaftler. „Dadurch bestehe die Gefahr, dass die Jugendlichen ihre natürliche Existenzgrundlage zunehmend aus dem Blickfeld verlieren“. Braucht es mehr Wildnisregionen, um Verständnis für Umweltschutz und lebensnotwendige Naturkreisläufe zu entwickeln? Und: Können Wildtiere, wie der Bär, auch in heutigen Kulturlandschaften überleben – mitsamt weitverzweigten Autobahnnetzen, großflächiger Landwirtschaftsnutzung und verstreuten Einfamilienhäusern? ![]() Nur mehr 7 % der Alpenflächen sind „wild“. Derzeit werden Naturräume und Almen in Mitteleuropa fast zur Gänze von Menschen kontrolliert. Laut WWF sind heute nur mehr 7 % der Alpenflächen „naturbelassen“ – sprich „wild“. Wildnis dürfe aber nicht verloren gehen, weil diese Vielfalt Teil und Natur des Menschen ist, ist Ökologe Graf überzeugt. „Die Vielfalt der Fauna und Flora kommt aus der Wildnis und nicht von der bewirtschafteten Alm“, umschreibt Graf es pointiert. Natur Natur sein zu lassen sei nicht nur ein Luxus: Graf: „Es braucht diese Quellen der Vielfalt, damit wir in Zukunft überleben können“. „Natur braucht kein Management“. Es gibt eine Reihe guter Beispiele in Österreich, wie der Mix aus wirtschaftlicher Nutzung und Naturbelassenheit gelingen kann. So geben beispielsweise die Bundesforste einen Teil der Gebiete für Wildnisbildung und Renaturierung frei. Mit dem „Live+ Projekt Ausseer Land“ wurde so der erfolgreiche Rückbau von Mooren in die Wege geleitet. Aber auch die Nationalparks Gesäuse, Kalkalpen und Hohe Tauern, das Wildnisgebiet Dürrenstein oder Wildbäche wie die (Mariazeller) Salza, der Lech in Vorarlberg oder diverse Wildbäche in der Schweiz zeigen: Wildnis und Zivilisation lassen sich gut vereinen. „Natur braucht kein Management“, ist Graf überzeugt. Und er plädiert dafür: „Es braucht mehr Regionen, die von der Ökonomie entkoppelt werden sollten“. Wie könnte ein zeitgemäßes Wildtierkonzept aussehen? „In dem man den Wildtieren nicht mit Nulltoleranz begegnet“, glaubt Graf. „Es muss Verständnis bei den Landwirtschaftsnutzern aufkeimen, dass auf entsprechende Veränderungen in der Natur reagiert und Verantwortung gezeigt wird“. Klar, sei es nicht einfach, auf gebirgigen Almen Elektro-Zäune aufzubauen oder Schutzhunde anzutrainieren. „Aber nur zu sagen: Nein, das geht nicht, das ist zu wenig“, sagt der Ökologe. Möglicherweise braucht es auch eine Art „Hirte 2.0“. Die Entwicklung ist jedenfalls schon im Gange: Bären rücken bereits aus Slowenien oder dem italienischen Trentino nach. Auch der Wolf kehrt langsam, aber stetig zurück. Es sollte der Wille da sein Neues bzw. Altes zuzulassen, „schließlich funktioniert es auch in anderen Ländern“. „Der Bär ist der Botschafter der Wildnis“, sagt Fotograf Marc Graf. Er ist aber auch eine „Schlüsselart unserer Wälder“, wie Partnerin Christine Sonvilla im Buch „Unter wilden Bären“ schreibt - und zitiert dabei Ziegenhalter Jure Bedenk aus Slowenien: „Ohne Bären gibt es weder einen vollständigen, noch einen gesunden Wald“. Bären helfen entscheidend mit Pflanzensamen zu verbreiten, verendete oder kranke Tiere aufzuspüren und nicht zuletzt ist ihre Anwesenheit ein Qualitätssiegel für eine Landschaft, die reich an natürlichen Nahrungsquellen ist. „Das Gefühl, dass der Mensch nicht der Stärkste ist, haben die Menschen in Slowenien nie verloren“, versucht Graf den „emotionalen Unterschied“ zu Ländern wie Österreich oder Deutschland zu erklären. Und auch wenn nicht alles hundertprozentig konfliktfrei verläuft, so ist Slowenien dennoch aktiv bemüht, Lösungen im Zusammenleben zu finden. Wer Schutzmaßnahmen ergreift, wird vom Staat gefördert. Respekt vor der Natur. Und noch einen wichtigen Unterschied hat Graf ausgemacht: „Es gibt in Slowenien eine gewisse Demut und großen Respekt vor der Natur“. Etwas, das in jedem Fall im zukünftigen Zusammenleben auf unserer Erde eine maßgebliche Rolle spielen wird... ![]() Buch-Tipp: „Unter wilden Bären - Der neue Nachbar in unseren Wäldern“ Von: Christine Sonvilla, Marc Graf und Rober Haasmann Umfang: 168 Seiten / ca. 230 Abbildungen Erschienen bei: Frederking & Thaler Verlag Web-Tipps: www.lebenamlimit.at www.sonvilla-graf.com Fotos: Marc Graf & Christine Sonvilla / Sonvilla-Graf OG Text: Helmut Wolf
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